Der Pfarrer lächelte. »Ein schöner Vortrag war das. Ich wette, das haben Sie irgendwo gelesen.«
Grannys Mund öffnete sich leicht. Ein empörtes Zischen, ein Blick, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst. 32 Jahre lang hatte sie als Bibliothekarin in der Islington Central Library gearbeitet. Grob geschätzt würde ich vermuten, dass wir uns zu siebzig Prozent über Zeug unterhielten, das sie irgendwo gelesen hatte.
Mühsam zog sich der Pfarrer aus den Polstern des Lesesessels nach oben, trank noch einen Schluck Tee und stellte Tasse und Untertasse auf den Sofatisch. »Lassen Sie mich Ihnen eines sagen – und ich spreche aus Erfahrung: In der Praxis ist der Tod so viel komplizierter als in der Theorie.«
Granny spitzte die Lippen. Sie war berüchtigt dafür, eine schlechte Verliererin zu sein. »Mag sein. Dann werden wir schon auch noch dahinterkommen. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig.«
Der Pfarrer neigte das Haupt, gab sich geschlagen.
»Dann lasse ich die Damen mal in Frieden.« Er stand auf, zückte eine Visitenkarte und legte sie neben seine noch fast volle Teetasse, den Blick auf mich gerichtet. »Ein paar Leute aus der Nachbarschaft haben darüber nachgedacht, ob Sie vielleicht drüben in der Christ Church einen kleinen Gedenkgottesdienst für Ellen abhalten wollen. Wenn das etwas für Sie wäre, melden Sie sich bei mir. Sie finden mich gleich um die Ecke.«
Granny erhob sich vom Sofa, um den Pfarrer hinauszubegleiten. Noch war sie ihn aber nicht los. Als er in der Wohnzimmertür stehen blieb, ließ sie vor Enttäuschung den Kopf hängen.
»Hannah«, sagte er und wandte sich an mich. »Deine Mum ist ab und zu auf einen kurzen Schwatz in der Kirche vorbeigekommen. Ich weiß, sie hatte mit ihren Dämonen zu ringen, aber an guten Tagen war sie ein echter Sonnenschein.«
Ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte, füllte mich vollständig aus: abgrundtiefe Scham. Ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte einfach in den Sofakissen versinken und verschwinden. Auf die Außenwelt hatte Mum während ihrer Hochs immer ganz reizend gewirkt, nur für Granny und mich waren sie ein grelles Warnsignal in der Dunkelheit ihrer verworrenen Realität. Höhenflüge und Höllenqualen, das waren bei Mum zwei Seiten einer Medaille.
»Es tut mir sehr leid für dich, mein Kind. Gott sei mit dir.«
Dieser letzte Satz brachte für Granny das Fass zum Überlaufen. Hätte er sich den doch nur gespart, wäre der Pfarrer noch mal glimpflich davongekommen.
»Ich sage Ihnen jetzt, was Gott ist. Gott ist ein Meme – Sie wissen schon, diese albernen Bildchen im Internet – und zwar ein hoch ansteckendes. Gott ist ein kultureller Virus, der kaum auszurotten ist. Schönen Dank auch, aber Darwin ist mir persönlich viel lieber als Ihr Virus-Meme.« Und damit schob sie ihn buchstäblich aus der Tür.
Das Flugzeug hält am Terminal. Neben mir schwafelt die Frau darüber, mit ihren Enkelkindern am Teich Enten füttern zu wollen. Ich ertrage es nicht mehr. Nicht dass sie das persönlich nehmen müsste, von den glorreichen Belanglosigkeiten anderer Leute bekomme ich nun mal Atemprobleme. Wahrscheinlich liegt das an der Trauer. An der Trauer um das, was ich verloren habe, aber mehr noch um das, was nie war. Mein größtes Ziel im Leben ist Normalität. Für mich wäre etwas hirnabstumpfend Belangloses reinster Luxus. Langeweile ist meine Perfektion.
Wieder hole ich mein Handy raus, um mich vom Gequatsche der Frau abzuschirmen. Soll sie mich doch für ein unverschämtes Gör halten.
Wenn man sich meinen Instagram-Feed so anschaut, könnte man Folgendes über mich denken:
Ich habe glattes, glänzendes rotes Haar und makellose Haut.
Ich koche gern.
Ich mag die Natur.
Ich bin total gern mit meinen lustigen Freundinnen unterwegs.
Ich bin normal.
Nichts davon wäre wahr.
Foto: In einer grauen Londoner Straße steht ein Mädchen mit langem dunklem Haar und pinkfarbenem Blumenkleid, auf den Lippen ein strahlendes Lächeln, wie der einzige Sonnenstrahl an einem verregneten Tag.
Filter: Rise
Bildunterschrift: Sommer ist eine Einstellungssache.
1253
Wie die Bildunterschrift hätte lauten sollen …
Option 1: Was siehst du auf diesem Foto? #glück #glamour #liebedasleben #instamega
Option 2: Lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen #fake
Option 3: Für das Posten dieses Bildes auf Instagram habe ich 2.000 Pfund erhalten #werbung
Option 4: Dieses Foto hat keinen Bezug zur Realität #instalüge
FÜNF WOCHEN ZUVOR IN LONDON
IMOGEN
Imogen Collins betrachtet sich im Spiegel. Ihre Haut sieht heute wirklich gut aus, kein Vergleich zu noch vor einem Jahr. Da hat sie jeden Morgen damit verbracht, Pickel und Unreinheiten mit einer Foundation zuzukleistern, die dick wie Wandfarbe war. Ob die Nachtcreme für unreine Haut, die sie von den L’Oréal-Leuten zugeschickt bekommen hat, tatsächlich die Lösung war? Oder liegt es an weniger Stresshormonen und größerem Abstand zwischen ihr und dem Monster?
Shit. Da ist es wieder. Das Monster. Andauernd schleicht es sich an und drängt sich ungefragt, gegen ihren Willen in ihre Gedanken. Ein Jahr ist seitdem vergangen und trotzdem will sein Schatten nicht verschwinden, nicht einmal an einem sonnigen Tag wie heute. Vielleicht sollte sie sich doch Hilfe suchen. Sich ein paar Tabletten besorgen oder so.
Draußen knarren Bodendielen. Auf der anderen Seite ihrer geschlossenen Zimmertür hört Imogen Schritte – leise, behutsame Tapser. Das kann nur Anna sein. Wenn Steph und Josh früh aufstehen, denken sie nie daran, dass andere eventuell noch schlafen. In fünf Minuten ist also der Kaffee fertig. Anna macht immer auch eine Tasse für Imogen. Imogen liebt Anna. Wäre Anna ein Mann, würde Imogen sie daten. Ach was, sie würde sie heiraten. Mit keinem anderen Menschen lebt es sich so angenehm wie mit Anna. Sie ist ruhig, sie kocht gerne, sie kann einen heftigen Mojito mixen. Der perfekte Partner. Was will man mehr?
Ein bisschen was würde Imogen schon einfallen: Augen, die irre braun und durchdringend sind; ein freches Lächeln, dessen Strahlen Stoff für ganze Nächte aus leicht peinlichen erotischen Träumen bietet; und steinharte Bauchmuskeln (die sie versehentlich gestreift hat, als sie beide gleichzeitig an die Latzugmaschine im Fitnessstudio wollten).
Heute Abend ist ihr Date mit Callum. Imogen hat ihn gefragt, nicht andersherum. Sie kennt ihn nicht wirklich. Im Gym haben sie sich ein paarmal kurz unterhalten, und seitdem ist Imogen sich ziemlich sicher, dass sie nicht das Geringste gemeinsam haben. Er arbeitet abends als Barkeeper und tagsüber als freiberuflicher Tätowierer. Doch sie will nach vorne blicken, endlich aus dem Schatten treten. Hör auf damit, Imogen. Wieso muss sich immer alles um ihn drehen? Wieso muss er immer alles besudeln? Kann ein Date nicht einfach ein Date sein und kein Versuch, nach vorne zu blicken, zu vergessen, neu anzufangen, einen neuen Weg zu finden oder sonst irgendein Scheiß? Eigentlich geht es ihr doch gut. Sie sollte glücklich sein. Ständig erklärt ihr irgendwer, was für ein fantastisches Leben sie doch habe. »Ich wünschte, ich könnte es dir nachmachen«, sagen sie, legen den Kopf schief und lächeln dabei, als würden sie sich unendlich für sie freuen, während sich in ihren eiskalten Augen unbewusst der Neid spiegelt.
Читать дальше