Sie liest den Namen – und ihre Freude über diese aus der Zeit gefallene Flaschenpost im digitalen Ozean wird von einem finsteren Tsunami verschlungen. Für einen Moment hält sie es für möglich, dass sie allein durch die Gedanken an ihn seinen Geist heraufbeschworen hat. Mit Vernunft hat das natürlich nichts zu tun. Aber das hat er aus ihr gemacht.
Was will er? Und wieso jetzt, nach über einem Jahr? Was will er ihr denn noch nehmen?
Sie kann die E-Mail nicht öffnen. Sie wird sie nicht öffnen.
Doch in der Benachrichtigung ist der Betreff zu lesen.
Jugend + Verunsicherung = scheiße viel Geld
Was soll das bedeuten? Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Will er sie verhöhnen?
Hör auf damit, Imogen. Hör auf. Sie weigert sich, seinetwegen zusammenzubrechen. Er hat ihr alles genommen. Dass sie trotzdem nicht umgekippt ist, ist alles, was sie noch hat. Das Einzige, worauf sie wirklich stolz ist. Alles andere, die Massen von Gratisklamotten, die schicken Möbel, das dicke Bankkonto, die vielen fremden Bewunderer, die unzähligen hübschen Fotos, all das würde sie opfern, wenn dafür nur alles wieder so wäre wie früher, als sie von ihren Eltern jede Woche ein mageres Taschengeld zugeteilt bekam. Wenn dafür nur alles wieder so wäre wie vor zwei Jahren, bevor sie auf die Uni gegangen und ihm begegnet ist – ihm, dem Monster.
Foto: Am Rand einer zugeschneiten Straße stehen drei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht. Dahinter erstreckt sich ein weites Lavafeld.
Filter: Nicht nötig
Mögliche Bildunterschriften …
Option 1: Und so trete ich meine Haftstrafe an … Nur ein Scherz, die suchen jemand anderen. Also, soweit ich weiß.
Option 2: Irgendwie wäre es mir fast lieber, sie würden nach mir suchen – im Gefängnis ist es bestimmt angenehmer als da, wohin die Reise für mich geht.
Option 3: Wieso denke ich wie eine Besessene darüber nach, was für ein Verbrechen hier geschehen sein mag?
Tatsächliche Bildunterschrift …
Düsterer Skandinavien-Thriller in echt.
12
Wie Speichelgeschosse klatschen die nassen Schneeregenflocken auf die Windschutzscheibe. Willkommen in Island, Hannah, hauche ich lautlos und kneife mir in den Oberschenkel, damit ich nicht schreie oder, was noch schlimmer wäre, in Tränen ausbreche.
Draußen herrscht eisige Kälte. Im Auto ist es trotzdem warm wie in einer Sauna. Mir hat noch nie eingeleuchtet, wieso man freiwillig in die Sauna geht, aber hier tun das eine Menge Leute (zum Glück rollen sie hinterher nicht nackt im Schnee herum wie so manch andere Skandinavier). In der heißen, stickigen Saunaluft fühle ich mich immer, als würde mir irgendwer ein unsichtbares Kissen aufs Gesicht pressen, und genauso fühle ich mich in diesem Auto.
Mein Blick zuckt zu dem Mann, der sich neben mir an das lederbezogene Lenkrad klammert.
Dad, nenne ich ihn.
Direkt ansehen kann ich ihn irgendwie nicht, da käme ich mir unhöflich vor, als würde ich einen Fremden anglotzen. Was jetzt im Prinzip gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. In manchen seiner Gesichtszüge erkenne ich mich zwar jedes Mal wieder, etwa in den schmalen grauen Augen und in ihrer Art, einen so durchdringend anzustarren, dass einem ganz anders wird, weil man nie weiß, ob er einem nun tief in die Seele blickt und die intimsten Gedanken entziffert oder einfach geradewegs durch einen hindurchschaut; auch in seinen Grübchen, die frech gegen seine stets bitterernste Miene rebellieren, und in seinen wilden dunkelblonden Augenbrauen. Im Ganzen ist er mir aber ziemlich fremd.
Seit zehn Minuten sind wir unterwegs und wir haben noch immer kein Wort miteinander gesprochen. Für die Fahrt vom Flughafen Keflavík zu Dads Haus in Fossvogur, einem Stadtviertel von Reykjavík mit Vorort-Flair und Einfamilienhäusern, die genauso gleichförmig sind wie ihre Bewohner, sollten wir ungefähr eine Stunde brauchen. Unter diesen Umständen ist eine Stunde eine Ewigkeit.
»Wie geht’s Rósa?« Ich versuche, durch ein bisschen Small Talk die Stimmung aufzulockern. Kein guter Plan.
»Sei nicht so, Hannah«, keift Dad und feuert einen durchdringenden Blick ab, den aber hauptsächlich der Schneematsch auf der Straße abbekommt.
»Wie bin ich denn?« Zugegeben, Rósa ist ein heikles Thema. Aber ich wollte wirklich nur wissen, wie es ihr geht. Glaube ich jedenfalls.
»Es ist dein Ton.«
Na gut, dann wird eben geschwiegen.
Gott, wie mir London fehlt. Wie mir Granny Jo fehlt. Wie mir …
Ich darf nicht einmal an sie denken. Trotz allem fehlt sie mir so sehr.
Am Ende ist Mum dann doch nicht vom Fluch dahingerafft worden (auch wenn wir alle fest damit gerechnet hatten). Am Ende hat sie etwas viel Banaleres kleingekriegt. Krebs. Und auch noch die häufigste Variante davon, nämlich Brustkrebs. Nichts Besonderes.
Wenn man bedenkt, wie oft sie diese Welt hinter sich lassen wollte, hat sie sich dann doch überraschend verbissen dagegen gewehrt. Zu ihren Bedingungen wäre sie freiwillig gegangen, aber so stemmte sie sich mit aller Macht dagegen. Für sie musste immer alles exakt nach ihren Vorstellungen ablaufen.
Mein Handy summt. Ich ziehe es aus der Tasche. Eine WhatsApp von Daisy.
DAISY Schon da?
HANNAH Leider ja.
DAISY Ach komm. Lass die negativen Gedanken nicht gewinnen. Du solltest das Ganze als Abenteuer betrachten.
Daisy ist ein Mensch, der Vorträge über positives Denken hält, ohne je davon gehört zu haben, dass es so etwas offiziell gibt. Meiner Theorie nach hat sich ihre Mum in der Schwangerschaft zu viele Selbsthilfebücher reingezogen. Daisy und ich sind seit der Vorschule befreundet und meistens finde ich ihre lebensbejahende Haltung toll. Manchmal will ich sie dafür aber erdrosseln.
HANNAH Keinen Bock auf Abenteuer. Denk nur an Alice.
DAISY Alice? Die Pickelige mit der Zahnspange, die früher bei KFC bedient hat?
HANNAH Nein, die hieß Alison. Ich meine die Alice … im Wunderland.
DAISY Ach die. Aber die hatte doch Spaß, oder?
HANNAH Sie wäre um ein Haar von einer verrückten Königin ermordet worden und fast in ihren eigenen Tränen ertrunken.
DAISY Ah okay. Hmm. Aber dein Kaninchenbau führt bestimmt nicht ins Wunderland.
HANNAH Da hast du auch wieder recht. Mein Kaninchenbau führt direkt in die Hölle.
Das ist gar nicht mal übertrieben. Oder nicht sehr. In alten Zeiten glaubte man tatsächlich, das Tor zur Hölle befände sich in Island.
DAISY Konzentrieren wir uns auf das Positive. Zum Beispiel: Es sind nur noch genau zwei Monate bis Weihnachten!
Das ist mal kein leerer Motivationstrainer-Spruch. Das ist ein echter Lichtblick. Nicht wegen des Weihnachtsmanns oder Jesus oder weil es dann bei Boots drei Parfüm-Geschenkboxen zum Preis von zweien gibt oder was man an Weihnachten sonst so großartig finden soll. Nein, an Weihnachten kommt Daisy mich in Island besuchen.
Am selben Tag, an dem ich über meinen baldigen Umzug nach Island informiert wurde, hat Daisys Mum ihr das Flugticket gekauft. Ich fürchte, für das nun folgende Geständnis sollte ich auf ewig in der Hölle schmoren (danke, ich finde alleine hin, weit kann es ja nicht sein), aber auch eine unaussprechlich schreckliche Wahrheit ist immer noch wahr: Mein ganzes Leben lang habe ich mir insgeheim ausgemalt, wie es wäre, wenn Daisys Mum meine Mum gewesen wäre. Daisys Mum, mit ihren sanft geschwungenen Hüften, den selbst gemachten Pfannkuchen, dem warmen Lächeln und dieser Aura nichtssagender Normalität, fast als wäre sie einer Zeitschrift für »die gute Hausfrau« aus den 1950er Jahren entsprungen. Seit Mums Tod fühle ich mich deswegen erst recht wie eine Verräterin.
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