Tristan Fiedler
Das Dunkle Bild
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Inhaltsverzeichnis
Titel Tristan Fiedler Das Dunkle Bild Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Impressum neobooks
Die meisten würden es seltsam finden, dass ich überhaupt keine Reaktion zeigte, als ich es erfuhr. Aber weder Trauer noch sonst eine Emotion schienen es mir wert, an diese Person verschwendet zu werden. Ich spüre noch den harten Sitz unter mir, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum es eigentlich so schwer ist, bequemere Stühle in dem kargen, fensterlosen Raum aufzustellen, in dem immerhin jeden Tag unzählige Leute wie ich sitzen und warten, während der Arzt mich durchdringend ansah. Er presste ein Clipboard an seine Brust. Dahinter ragte ein Bündel Kulis aus der Brusttasche seines Kittels. „Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?“
Ich nickte nur. Der Arzt räusperte sich und warf einen Blick auf sein Clipboard, als könne er ihm etwas Neues abgewinnen. Meine Reaktion – oder besser gesagt, meine Nicht-Reaktion – schien ihn zu verwirren.
„Wenn Sie wollen, können Sie jetzt zu ihm.“
Ich schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist doch tot“, erwiderte ich. „Oder nicht?“
Der Arzt nickte zögerlich.
„Wieso sollte ich dann nochmal zu ihm gehen?“
Der Arzt öffnete den Mund. Doch ich entschloss mich, ihm keine Zeit für eine Antwort zu lassen. Ich ahnte sowieso, was er sagen würde.
Natürlich, jeder muss Abschied nehmen. Und es war sicherlich schwer zu verstehen, warum ich das nicht tun wollte. Aber ich hatte nicht die Absicht, mich zu rechtfertigen. Der Arzt wusste nichts von meinem Vater. Oder mir. Oder der Beziehung, die wir geführt hatten. Außerdem fühlte ich mich von seiner Gegenwart erstickt. Fehlende Distanz zu einem Menschen hat diesen Effekt auf mich. Wenn der andere ein völlig Fremder ist, macht es das nicht unbedingt besser. Und dieser Blick, dieser einfühlsame, mitleidige Blick, war einfach zu viel für mich. Fehlte nur noch, dass er mir die Hand irgendwo auflegte.
„Ich hab es leider eilig“, sagte ich. „Muss ich irgendwas unterschreiben oder so?“ Mein Blick wanderte ruhelos durch den Raum. Hauptsache, ich musste dem Arzt nicht in die Augen sehen.
Im Hintergrund öffnete sich die Tür. Jetzt kam auch noch der Psychologe, der meinen Vater über die letzten Wochen begleitet hatte. Ich spürte, wie mir heiß wurde. Allerhöchste Zeit, hier wegzukommen. Das bedeutete, ich musste mir etwas überlegen, um mich einigermaßen elegant aus der Situation herauszuwinden. Keine leichte Aufgabe. Ich sah auf die Uhr und stammelte etwas von abendlichen Verpflichtungen, von schließenden Geschäften und von der Tagesschau. Der Arzt wirkte nicht überzeugt. Im nächsten Moment schon nahm mich der Psychologe freundlich an der Schulter und bot an, dass wir uns setzten. Ich fuhr wie elektrisiert zusammen. Doch der Psychologe ignorierte das. Mit eiserner Freundlichkeit im Blick drückte er mich zurück auf den Stuhl. Jetzt reichte es mir. Ich sprang auf, riss mich los und verließ eiligen Schrittes den Raum. Ich spürte die verdatterten Blicke im Rücken, doch es war mir egal.
Ich muss dazu sagen: Der Tod meines Vaters war abzusehen gewesen. Die letzten Monate hatte er nur noch im Bett gelegen und war wortwörtlich dahin gesiecht. Der Tumor in seinem Kopf muss außerdem Stellen seines Gehirns geschädigt haben. Er war in den letzten Tagen, die er noch zu Hause verbrachte, unerträglich geworden. Meine Aufgabe bestand darin, mich seinen Beschimpfungen auszusetzen und ihm – im schlimmsten Fall gleichzeitig – bei den unumgänglichen Pflichten beizustehen. Insofern kann ich sagen: Sein Tod war weniger ein Schock als mehr eine Erleichterung für mich.
Mein Vater muss geahnt haben, dass er aus dieser Operation nicht wieder lebend zurückkommen würde. Das merkte ich, als ich seine Sachen für ihn packte. Er lag zuerst wie leblos in seinem Bett. Dann packte er meinen Arm und zog mich zu sich herab. Mit undeutlichen Worten versuchte er, mir etwas mitzuteilen.
„Es gibt da noch ein paar Dinge“, sagte er heiser. „Dinge, die geklärt werden müssen.“
Ich sah die Dringlichkeit in seinem Blick. Aber er sprach schon seit Wochen verworren, deshalb beachtete ich das gar nicht.
Mein Vater musste das spüren. Er packte mich heftiger. „Es ist wichtig. Und ich schaff das nicht mehr. Deshalb musst du das jetzt machen.“
Seine weiteren Worte gingen in einem Hustenanfall unter. Er ließ mich los, und ich beeilte mich, seine restlichen Sachen zu packen. Als er mich dabei abermals am Arm nahm, befreite ich mich eilig und versicherte ihm in ruhigem Ton, dass ich mich schon um alles kümmern werde.
Das war das letzte Mal, dass wir miteinander sprachen.
Als ich das Krankenhaus verließ und in den Regen hinaustrat, dachte ich an all die unbequemen Pflichten, die jetzt auf mich zukommen würden. Eine Beerdigung musste organisiert werden. Ich hatte in den letzten Wochen immer wieder mit dem Gedanken gespielt, schon vor der Operation alles in die Wege zu leiten, aber irgendetwas hatte mich davon abgehalten. Vielleicht war es Moralempfinden. Ich weiß es nicht. Jetzt ärgerte ich mich darüber. Wenigstens ein Grab hätte ich organisieren können. Aber die unangenehmste Arbeit würde das kleine Haus am Rand der Stadt bedeuten, das jetzt leer geräumt, renoviert und wieder zum Kauf angeboten werden musste. Da ich keine Geschwister habe und damit das letzte Überbleibsel der Familie bin, fiel diese Aufgabe ganz alleine mir zu.
~
Es regnete noch immer, als am nächsten Morgen zwei Umzugswagen vor dem kleinen Haus vorfuhren, direkt am Rand eines Rapsfeldes. Die gelben Pflanzen tanzten unter den schweren Regentropfen, und ich erinnerte mich an den starken Geruch, der von diesem Feld ausging, wenn die Sonne schien. Meine Mutter liebte die Natur und ihre Düfte, Jasmin, Flieder und besonders Lavendel. Als sie noch am Leben gewesen war, hatte sie dieses Haus direkt am Feld ausgesucht, um hier gemeinsam mit meinem Vater in Ruhe ihren Lebensabend, wie sie es ständig nannte, verbringen zu können. Und das hatten sie dann auch getan, wenn auch der Lebensabend meiner Mutter um einiges kürzer ausgefallen war als der meines Vaters.
Im Haus gab es nur einen Gegenstand, den ich gleich an mich nahm, um ihn zu retten: Ein altes Foto von meiner Mutter, das auf der Anrichte im Wohnzimmer stand. Ich nahm es behutsam in die Hand und betrachtete es, während mehrere Arbeiter die Anrichte unter mir anhoben und wegtrugen. Das Schwarzweiß-Bild zeigte eine junge Frau mit zarten Gesichtszügen. Meine Mutter konnte damals kaum älter als zwanzig gewesen sein. Die alte Aufnahme hatte mich immer schon fasziniert. Sie ließ erahnen, wie schön meine Mutter damals gewesen war. Ihre dunklen Haare waren ordentlich zurückgelegt und glänzten seiden. Nur eine Locke hatte sich gelöst und fiel ihr frech in die Stirn. Sie schenkte dem Betrachter ein mildes Lächeln, das, wie ich immer fand, sehr traurig wirkte. Was meine Mutter damals gedacht haben muss, habe ich nie erfahren. Wenn ich sie zu der Zeit befragte, in der die Aufnahme gemacht wurde, dann hielt sie sich bedeckt. Ich erinnere mich an den einzigen Moment, in dem sie etwas von dem Geheimnis ihrer Vergangenheit Preis gab, nachdem ich keine Ruhe geben wollte. Sie sah mich mit verklärtem Blick an und sagte: „Weißt du, das ist so lange her... Vielleicht ist es besser, wenn man die Vergangenheit einfach vergisst und nicht mehr anrührt.“
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