Das Handy in meiner Hand summt und ich zucke zusammen. Fast rechne ich mit einer Nachricht von meiner Mum, mit einem Anpfiff aus dem Grabe heraus, weil ich so schlecht über sie rede.
DAISY Bald ist Dezember und ich freue mich schon so darauf, dich zu sehen … dich und diese Polarlichter natürlich. Okay, muss weiterlernen. Jetzt willst du nicht mehr mit mir tauschen, was?
Doch, will ich trotzdem. Daisy lernt für ihre A-Levels am Highbury College. So wie ich bis vor einer Woche.
Daisy fehlt mir.
Ich stecke das Handy wieder ein. Ich wünschte, ich würde auch in London für meine A-Levels lernen. Aber dass ich das eben nicht tue, ist ausnahmsweise nicht Mums Schuld. Das habe ich ganz allein hingekriegt.
Eigentlich hatte ich die Schülerzeitung, die Highbury Gazette, nur als Ausrede gegründet, um nach dem Unterricht nicht immer gleich nach Hause gehen zu müssen. Doch dann habe ich mich ein bisschen hineingesteigert.
Zwanzig Leute schrieben regelmäßig für die Zeitung, wir trafen uns zweimal pro Woche in der Redaktion (sprich: in der Schulbibliothek) und diskutierten über den Inhalt der wöchentlichen Ausgabe. Daisy umgarnte als Chefin der Marketingabteilung per Telefon Geschäfte aus der Gegend, bis sie bei uns Anzeigen schalteten. Mit der Zeit sprachen mich immer öfter Leute auf dem Gang an, um über ihre Lieblingsartikel zu plaudern. Und bald wollten sogar immer mehr von ihnen mitmachen.
Ich fand es toll. Ich fand es toll, herumzuschnüffeln und nach lohnenswerten Themen zu suchen: der mäßige Nährstoffgehalt mancher Mahlzeiten in der Schulmensa, die Highlights der neuesten PISA-Studie oder das Zerwürfnis in der Theatergruppe – die eine Hälfte wollte eine modernisierte Version von Hamlet auf die Bühne bringen, die andere wollte die Aufführung traditionell halten. Ich fand es toll, Schüler zu interviewen, die an irgendeinem interessanten Ort gewesen waren oder irgendetwas Bemerkenswertes geleistet hatten, und den größten Kick gaben mir meine langen Enthüllungsstorys, etwa über die feuchten Wände in einigen Klassenzimmern, die sich tatsächlich als übler Schimmelbefall und damit als Gefahr für die Gesundheit von Schülern und Lehrern entpuppten.
So wurde die Highbury Gazette, anfangs ein bloßer Zeitvertreib, zu meinem ganzen Stolz. Ich war nicht mehr nur Hannah, das ziemlich unscheinbare Mädchen, das sich im Nebenjob um seine komische Mutter kümmerte, eine Frau, die hin und wieder im Nachthemd und mit einer halb geplatzten Tesco-Plastiktüte voller Bierdosen in der Hand am Schultor auftauchte. Plötzlich war ich Hannah, Herausgeberin der Schülerzeitung und Verkünderin der Wahrheit, ich war knallhart drauf und kein Niemand mehr.
Knapp eine Woche nach Mums Tod brauchte ich dann dringend eine Ablenkung. Ein Artikel aus dem Guardian, den Granny Jo jeden Morgen kaufte, brachte mich auf die Idee: Eine Radiomoderatorin der BBC hatte herausgefunden, dass ihre (männlichen) Kollegen für die gleiche Arbeit fünfzig Prozent mehr Gehalt bekamen.
Für ihre Marketing-Telefonate durfte Daisy ab und zu das Büro des Rektors benutzen, ich durfte dort Interviews führen. Bei einer dieser Gelegenheiten hackte ich mich in seinen Computer – so hat er es hinterher zumindest genannt. Ich finde, man kann nicht von »hacken« sprechen. »Hacken« ist nicht das Gleiche wie simples Einloggen und man muss gar nichts »hacken«, wenn der Benutzer den Vornamen seiner Gattin als Passwort eingestellt hat (worauf ich übrigens beim dritten Versuch kam). Innerhalb von zwei Minuten hatte ich die Gehaltslisten aufgespürt. Dann öffnete ich den Browser, ging auf Gmail, meldete mich an und schickte die Excel-Tabelle als Anhang an mich selbst.
Zu Hause rechnete ich das Ganze durch. Das Gehalt der männlichen Lehrkräfte an unserer Schule lag 23 Prozent über dem der weiblichen.
In dem Korrekturbogen, den ich meiner Englischlehrerin Ms Thackeray vorlegen musste, bevor die neue Ausgabe an die Druckerei ging, war meine große Enthüllungsstory noch nicht enthalten. Erst nachdem sie alles abgenickt hatte, tauschte ich die Titelseite aus.
Die Hölle brach los. Die Eltern rasteten aus. Die Schulaufsicht auch. Der Rektor musste sich öffentlich für das Gehaltsgefälle entschuldigen und geloben, es in Ordnung zu bringen. Die Schüler jubelten über das Chaos.
Ich wurde der Schule verwiesen.
Dads Blick zuckt für einen Moment zu mir. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
Ein Flugticket nach London?, hätte ich fast erwidert, aber ich kann mir gerade noch auf die Zunge beißen. Das wird ein Friedensangebot sein. Ich sollte es annehmen.
»Ich habe dir schon einen ersten Auftrag organisiert.«
Ach, das.
Wenn man bedenkt, wieso ich der Schule verwiesen wurde, hat meine Strafe eine gewisse Ironie, die meinen ehemaligen Rektor vermutlich ziemlich auf die Palme bringen würde: Ich wurde zu einem Praktikum bei der Zeitung meines Dads verdonnert.
Mein Blick zuckt zu ihm. Er schaut starr auf die Straße. Es ist kaum jemand unterwegs und unsere Geschwindigkeit liegt deutlich über dem Tempolimit.
»Was für ein Auftrag?«
Jetzt blickt er etwas milder drein. »Ein Interview.«
Okay. Okay, das könnte ganz gut werden. Interviews machen mir Spaß.
»Mit einer sehr bekannten Influencerin.«
Irrtum. Es wird eine Qual.
»Ich hasse Influencer.« Mit Wucht lasse ich mich gegen meine Lehne fallen. Mir doch egal, wenn ich mich aufführe wie eine schmollende Vierjährige, die keinen Lolli bekommen hat. »Influencer sind so dumm. Wegen denen steht meine Generation als lauter Hohlköpfe da. Als würden wir alle glauben, Duckface-Machen wäre ein echter Job, Belfies auf Instagram wären ein wichtiger Aspekt der Selbstfindung und Erfahrungen im Photoshoppen von Thigh Gaps wären ein großes Plus im Lebenslauf.«
Dad überhört meine Schimpftirade. »Sie heißt Imogen So-und-So. Schon mal von ihr gehört?«
»Millionen Menschen bilden sich ein, sie wären Social-Media-Stars. Wieso soll ich ausgerechnet von der gehört haben?«
»Na ja, sie ist genau wie du …«
Ist sie sicher nicht.
»Sie kommt aus Großbritannien, ist aber gerade nach Island gezogen.«
Mein Blick zuckt zu Dad. Da ist doch was faul. Das stinkt zum Himmel.
»Diese Imogen macht bei Cool Britannia 2.0 mit, einer Konferenz an der britischen Botschaft zur Stärkung der kulturellen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Rest der Welt. Sie spricht da über Mode oder Make-up oder Selbstverwirklichung … irgendwas in der Richtung.«
Irgendwas in der Richtung?
»Und dafür, dass wir ein Interview mit ihr bringen, hat sie sich bereit erklärt, dir unter die Arme zu greifen.«
Da ist sie schon, die Ursache des fauligen Geruchs: Mein Dad hat Hintergedanken und die stinken schlimmer als Harðfiskur, diese isländische Delikatesse aus getrocknetem Fisch, die den Duft eines alten Müllsacks verströmt.
»Sie soll mir wobei unter die Arme greifen?«
»Beim Einleben. Beim Ankommen in einem neuen Land.«
»Ich brauche keinen Babysitter. Ich habe jeden Sommer meines Lebens in Island verbracht.«
Das will Dad mit einem lässigen Schulterzucken abtun, es wirkt aber wahnsinnig steif und bemüht. Ihm ist durchaus bewusst, wie dumm sein Plan ist. »Es ist alles vorbereitet. Das Interview soll morgen über die Bühne gehen. Dann kannst du mal mit jemandem über alles reden. Nutz die Chance.«
»Nicht zu fassen. Du hast irgendeine blöde Social-Media-Tussi bestochen, sich mit mir zu unterhalten? Es ist kaum zu glauben.«
»Mein Gott, ich wollte dir einen Gefallen tun.«
»Dann lass mich ein richtiges Interview führen. Das wäre was gewesen.«
»Das ist ein richtiges Interview.«
»Ist es nicht. Es ist Werbung. Genau genommen bezahlt diese Imogen dafür, dass du ihren Auftritt in deiner Zeitung promotest, zwar nicht mit echtem Geld, aber mit einem Beratungsgespräch – und deshalb ist dieses Interview kein echter Journalismus, sondern eine Werbeanzeige.«
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