Yrsa Sigurðardóttir
Das gefrorene Licht
Dieses Buch ist meinem neugeborenen Enkel gewidmet, Reginn Freyr Mánason.
Besonderen Dank an Páll Kjartansson, Schrecken aller Briefträger.
Yrsa
Die isländischen Buchstaben werden wie folgt ausgesprochen:
Æ bzw. æ wie ai in Kaiser
Đ bzw. ð wie englisches stimmhaftes th in this
þ bzw. þ wie englisches stimmloses th in thick
Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung grundsätzlich die Du-Form gewählt.
Die deutsche Übersetzung des Verses aus der Edda auf S. 250 ist aus folgendem Band entnommen: Die Edda. Nach der Übersetzung v. Karl Simrock neu bearb. u. eingeleit. v. Hans Kuhn, 3 Bde. Reclam, Leipzig 1935–1947, Stuttgart 1997, 2004.
Dóra Guðmundsdóttir — Reykjavíker Rechtsanwältin und alleinerziehende Mutter
Matthias Reich — ihr Freund aus Deutschland, ehemaliger Kriminalkommissar
Sóley und Gylfi — Dóras Kinder
Sigga — Gylfis schwangere Freundin
Bragi Dóras — Kollege in der Anwaltskanzlei
Bella — ihre Sekretärin
Jónas — Hotelbesitzer, Dóras Mandant
Birna — Architektin
þórólfur — Kriminalkommissar
Nachbarn:
Bergur — Bauer
Rósa — seine Frau
Gvendur — Rósas Vater
Steini — junger Mann im Rollstuhl
Die Familien der Brüder von den alten Höfen in Snæfellsnes:
Hotelangestellte und -gäste:
Vigdís — Empfangschefin
Sóldís — Zimmermädchen
Lára — Sóldís’ Großmutter
Jökull — Kellner
Sibba — Masseurin
Kata — Kosmetikerin
Eiríkur — Hellseher
Stefanía — Sexualberaterin
Teitur — Börsenmakler
þröstur — Kajakfahrer
Robin Kohman — amerikanischer Fotograf
Magnús — pensionierter Politiker
Baldvin — Magnús’ Enkel, Kommunalpolitiker
Herr Takahashi und sein Sohn — japanische Hotelgäste
Das kleine Mädchen spürte, wie ihm die Kälte die Beine hinauf bis in den Rücken kroch. Sie versuchte, sich auf dem Vordersitz hochzurecken, um besser hinausschauen zu können. Konzentriert betrachtete sie die schneeweiße Landschaft, konnte aber kein Vieh entdecken. Draußen ist es zu kalt für die Tiere, dachte sie und wünschte sich, aus dem Auto steigen und wieder ins Haus gehen zu dürfen. Aber sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Eine Träne rann langsam über ihre Wange, während der Mann neben ihr sich mühte, den Motor in Gang zu bringen. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte ihr Gesicht von ihm ab, damit er es nicht sah. Er würde sehr wütend werden. Sie beobachtete das Haus, vor dem der Wagen stand, und versuchte, das andere Mädchen zu erspähen, aber das einzige sichtbare Geschöpf war der Hofhund Snúður. Er lag schlafend auf den Stufen vor der Haustür. Plötzlich hob er den Kopf und blickte sie starr an. Betrübt lächelte sie ihm zu.
Das Auto sprang an, und der Mann richtete sich im Sitz auf. »Na endlich«, sagte er mit tiefer, rauer Stimme und fuhr los. Er warf dem Mädchen, das sich wieder zur Frontscheibe gedreht hatte, einen raschen Blick zu. »So, jetzt machen wir einen kleinen Ausflug.« Als sie über den holprigen Zufahrtsweg vom Hof wegfuhren, wurde das Mädchen auf dem Sitz durchgeschüttelt. »Halt dich fest«, sagte er, ohne sie anzuschauen.
Schließlich erreichte das Auto die Straße, und sie fuhren eine Weile schweigend. Das Mädchen schaute aus dem Fenster, in der Hoffnung, ein paar Pferde zu sehen, aber alles war öde und leer. Ihr Herz machte jedoch einen Sprung, als sie die Gegend erkannte. »Fahren wir zu mir nach Hause?«, fragte sie mit dünner Stimme und großen Augen.
»Könnte man vielleicht so sagen.« Das Mädchen reckte sich noch mehr und musterte die Umgebung genauer. Vor ihnen lag der vertraute Landstrich: In der Ferne war der Felsen zu erkennen, von dem Mama erzählt hatte, er sei eine versteinerte Trollfrau. Instinktiv beugte sie sich vor, um besser sehen zu können. Auf einer kleinen Anhöhe tauchte ein Auto auf, das ihnen entgegenkam. Das Mädchen glaubte, ein Militärfahrzeug zu erkennen. Der Mann bremste ab und befahl ihr, sich zu ducken. Sie tat es widerspruchslos; sie war es gewohnt, sich zu verstecken. Anscheinend war der Mann derselben Meinung wie Großvater, dass das Militär nichts Gutes brächte. Ihre Mama hatte ihr zugeflüstert, die Soldaten seien ganz normale Männer, genau wie Großvater. Nur jünger. Und hübscher. »So wie du.« Wie lieb ihre Mama sie dabei angelächelt hatte.
Das kleine Mädchen hörte, wie sich das Motorengeräusch des anderen Wagens näherte, anschwoll, bis die beiden Fahrzeuge aneinander vorbeifuhren, und dann wieder schwächer wurde, als sie sich entfernten. Sie rutschte auf dem Sitz herum. »Du darfst dich wieder hinsetzen«, sagte der Fahrer, und sie setzte sich auf. »Weißt du, wie alt du bist?«, fragte er.
»Vier Jahre«, antwortete sie.
Der Mann schnaubte. »Du bist furchtbar schmächtig für eine Vierjährige.« Das Mädchen verstand das Wort nicht, wusste aber, dass es nicht gut war, so zu sein. Sie antwortete nicht. Schweigen. »Willst du deine Mama wiedersehen?«
Das kleine Mädchen riss die Augen auf und starrte den Mann an. Fuhren sie etwa zu Mama? Sie spürte, wie allein bei dem Gedanken daran alles besser wurde. Eifrig nickte sie.
»Dachte ich mir«, sagte der Mann und glotzte auf die vor ichnen liegende Straße. »Du wirst sie wiedertreffen.«
Das Mädchen spürte vor Kälte seine Beine nicht mehr. Sie bogen in einen Weg, den sie genau kannte. Sie sah ihren Hof und lächelte das erste Mal seit langer Zeit. Jetzt würde alles wieder gut werden. Das Auto fuhr langsam auf den Hof zu und hielt an. Verzückt starrte das Mädchen das große, stattliche Haus an. Irgendwie wirkte es einsam und traurig. Kein Licht und kein Rauch über dem Schornstein. »Ist Mama hier?«, fragte sie ungläubig. Irgendetwas stimmte nicht. Als sie Mama zum letzten Mal gesehen hatte, lag sie im Bett, in einem Zimmer im Haus von diesem Mann. Krank. So wie Großvater. Krank, und niemand wollte Mama helfen, außer ihr. Ob Mama in der Nacht, als sie aus dem Bett verschwand, zurück nach Hause gegangen war? Aber warum hatte sie sie dann bei dem Mann zurückgelassen? Das hätte sie nie getan.
»Deine Mama ist nicht genau hier. Aber du wirst sie treffen. Von jetzt an könnt ihr immer zusammen sein.« Er grinste, und das dämpfte die Freude des Mädchens ein wenig. Trotzdem traute sie sich nicht, Fragen zu stellen. Der Mann stieß die Wagentür auf und stieg aus. Er ging um das Auto herum und hielt ihr die Tür auf. »Komm. Du musst eine kleine Reise machen, bevor du deine Mama wiedersiehst.« Vorsichtig stieg das Mädchen aus dem Wagen. Sie schaute nach allen Seiten und hoffte, jemanden oder etwas zu sehen, das sie ermutigen würde, konnte aber nichts entdecken.
Der Mann beugte sich hinunter und griff nach der behandschuhten Hand des Mädchens. »Komm, ich will dir was zeigen.«
Er zog sie mit sich. Sie musste fast laufen, um mit seinen großen Schritten mithalten zu können. Sie gingen hinter das Haus in Richtung Stall. Ein grässlicher Gestank kam auf und wurde immer stärker, je näher sie dem Viehstall kamen. Sie hätte sich gerne die Nase zugehalten, traute sich aber nicht. Als sie den Stall erreicht hatten, trat der Mann an das Gebäude heran und schaute durchs Fenster. Das Mädchen war zu klein, es ihm gleichzutun.
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