»Na also!«, rief der Mann und warf seiner Frau einen triumphierenden Blick zu. »Hab ich doch gleich gesagt! Sie können sich also nicht einfach weigern, uns die Post zuzustellen.« Er drehte sich zu Dóra, setzte sich auf und verschränkte die Arme.
Dóra räusperte sich dezent. »Leider ist das nicht ganz so einfach. Die neue Verordnung verweist in Bezug auf Briefeinwurfklappen und deren Positionierung auf die Bauverordnung. Alle Briefeinwurfklappen sollen demnach so angebracht sein, dass der Abstand vom Boden bis zur unteren Kante der Briefeinwurfklappe nicht weniger als 1000 und nicht mehr als 1200 Millimeter beträgt.« Dóra hielt kurz inne, um Luft zu holen, achtete jedoch darauf, dem Mann nicht die Gelegenheit zu geben, ihr ins Wort zu fallen. »In der Gesetzesverordnung Nummer 12/2002 zum Postdienst heißt es, den Postdienstleistern sei es gestattet, Postsendungen zurückzuschicken, wenn die Briefeinwurfklappe nicht den Bauvorschriften entspricht.«
Weiter kam sie nicht, denn dem Mann riss der Geduldsfaden. »Willst du mir damit sagen, dass ich keine Post mehr bekomme und nichts tun kann, um mich vor diesem Vorschriftenunwesen zu schützen?« Er schnaubte und gestikulierte wild mit den Händen, so als wolle er einen Angriff unsichtbarer Bürokraten abwehren.
Dóra zuckte die Achseln. »Du kannst die Briefeinwurfklappe natürlich erhöhen.«
Der Mann warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Ich dachte, du könntest uns helfen. Immerhin hast du versprochen, dich vorher in die Sache einzuarbeiten!«
Anstatt die Verordnung zu nehmen und sie dem Mann in sein feuerrotes Gesicht zu schleudern, ließ Dóra es zähneknirschend dabei bewenden. »Was ich selbstverständlich getan habe«, sagte sie ruhig und setzte ein falsches Lächeln auf. Sie hatte damit gerechnet, dass das Ehepaar beeindruckt wäre, wie perfekt sie die Nummern der Verordnungen herunterleiern konnte. Im Grunde hätte sie sich denken können, dass das einer dieser nervtötenden Fälle war, bei denen man sich völlig sinnlos wie ein Hamster im Laufrad abmühen musste. Schon als der Mann vor zwei Tagen mit erregter Stimme in der Kanzlei angerufen hatte, hätten die Alarmglocken läuten müssen. Gehetzt hatte er nach rechtlichem Beistand verlangt wegen einer Auseinandersetzung mit dem Postboten und der Post. Seine Frau und er hatten soeben ein Fertighaus bezogen, das aus Amerika importiert und mit sämtlichem Zubehör angeliefert worden war — darunter auch eine Haustür mit einem unzulässigen Briefschlitz. Eines Tages war die Frau nach Hause gekommen und hatte einen handgeschriebenen Zettel an der Haustür vorgefunden, auf dem stand, dass sie keine Post mehr zugestellt bekämen, weil der Briefschlitz zu niedrig sei.
In Zukunft sollten sie ihre Sendungen bei der Post abholen. »Ich kann dir nur raten, das in dieser Situation Vernünftigste zu tun. Ein Prozess gegen die Isländische Post, wie du ihn in Erwägung ziehst, würde nur zusätzliche Kosten verursachen. Von einem Prozess gegen die Baubehörde rate ich dir ebenfalls ab.«
»Es kostet auch Geld, die Haustür austauschen zu lassen. Der Schlitz lässt sich nicht nach oben versetzen. Das habe ich dir doch schon gesagt.« Siegesgewiss schauten der Mann und die Frau einander an.
»Eine Haustür kostet jedenfalls weniger als irgendein Prozess.« Dóra reichte ihnen das letzte Dokument von dem Stapel, den sie vor dem Eintreffen des Ehepaars vorbereitet hatte. »Hier ist ein Brief, den ich in deinem Namen geschrieben habe.« Beide Eheleute griffen nach dem Papier, aber der Mann war schneller. »Die Post oder der Briefträger sind falsch vorgegangen. Ihr hättet ein förmliches Einschreiben bekommen sollen, in dem euch mitgeteilt wird, dass die Briefeinwurfklappe in einer unzulässigen Höhe angebracht ist. Des Weiteren hätte euch eine Korrekturfrist gesetzt werden müssen. Die Postzustellung hätte erst nach Ablauf dieser Frist eingestellt werden sollen.«
»Ein Einschreiben!«, tönte die Frau. »Wie sollen wir das denn kriegen, wenn uns nichts zugestellt wird!« Selbstzufrieden blickte sie zu ihrem Mann. Seine Reaktion war jedoch nicht so, wie sie erwartet hatte, und ihr Gesicht nahm schnell wieder einen beleidigten Ausdruck an.
»Ach, Liebes, verdreh doch nicht die Worte«, stieß der Mann hervor. »Einschreiben wirft man nicht in den Briefschlitz — die müssen bei Annahme quittiert werden.« Er wandte sich an Dóra. »Fahr bitte fort.«
»In dem Brief fordern wir ein korrektes Vorgehen der Post: dass ein Einschreiben geschickt, die Korrektur eingefordert und euch eine akzeptable Frist gesetzt wird. Wir setzen zwei Monate an.« Sie zeigte auf den Brief, den der Mann bereits gelesen hatte und nun an seine Frau weiterreichte. »Danach können wir nicht mehr viel tun. Ich empfehle euch, die Höhe der Briefeinwurfklappe vor Ablauf der Frist zu korrigieren. Wenn das aber nicht möglich ist, und ihr die Tür so belassen wollt, könnt ihr einen Briefkasten aufstellen. Der Schlitz muss sich innerhalb derselben Höhenangaben befinden, wie sie auch für die Einwurfklappe gelten. Falls ihr euch dafür entscheidet, rate ich euch, zur Vermeidung weiteren Ärgers, den Briefkasten mit Hilfe eines Zollstocks aufzustellen.« Sie lächelte dem Ehepaar trocken zu.
Der Mann sah sie scharf an und dachte nach. Plötzlich grinste er schadenfroh. »Okay. Ich verstehe. Wir schicken den Brief, bekommen ein Einschreiben und haben dann zwei Monate, in denen der Briefträger uns die Post zustellen muss, unabhängig von der Höhe der Luke, nicht wahr?« Dóra nickte. Mit triumphierendem Gesicht stand der Mann auf. »Wer zuletzt lacht, lacht am längsten. Ich schicke den Brief jetzt ab, und sobald ich die Frist bekommen habe, werde ich den Briefschlitz runter zur Türschwelle verlegen. Nach Ablauf der Frist stelle ich dann einen Briefkasten auf. Komm, Gerða!«
Dóra brachte die beiden zur Tür, wo sie sich bedankten und verabschiedeten. Der Mann hatte es eilig, den Brief einzuwerfen, damit die zweite Halbzeit seines Kleinkriegs mit dem Postboten eingeläutet werden konnte. Auf dem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch schüttelte Dóra den Kopf, verwundert über das Wesen der Menschen. Auf was für Ideen die Leute kamen. Sie hoffte, dass Briefträger gut bezahlt würden, bezweifelte es aber stark.
Dóra hatte sich gerade wieder hingesetzt, als Bragi, der Miteigentümer ihrer kleinen Anwaltskanzlei, seinen Kopf durch die Tür steckte. Er war ein älterer Herr, der sich auf Scheidungen spezialisiert hatte. Dóra konnte sich nicht vorstellen, solche Fälle zu bearbeiten. Ihre eigene Scheidung reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Bragi war auf diesem Gebiet jedoch ganz in seinem Element und es gelang ihm hervorragend, die kompliziertesten Fälle zu lösen und die Leute dazu zu bringen, ohne große Reibereien miteinander zu reden. »Na, wie ist es mit dem Briefschlitz gelaufen? Wird das ein Präzedenzfall vor dem Obersten Gerichtshof?«
Dóra lächelte ihm zu. »Nein, sie überlegen es sich nochmal. Wir müssen dran denken, die Rechnung mit einem Kurier zu schicken. Es ist völlig unklar, ob sie noch Post zugestellt bekommen.«
»Ich hoffe sehr, dass sie das kapieren«, sagte Bragi und rieb seine Handflächen gegeneinander. »Sonst hätten wir ein Verfahren, das sich gewaschen hat.« Er zog einen gelben Zettel hervor und reichte ihn Dóra. »Der hat angerufen, als die Postschlitz-Leute bei dir waren. Du sollst ihn zurückrufen, wenn du Zeit hast.«
Dóra schaute auf den Zettel und seufzte, als sie den Namen sah. Jónas Júlíusson. »Na super«, sagte sie und warf Bragi einen Blick zu. »Was wollte er denn?« Vor einem guten Jahr hatte Dóra diesen wohlhabenden Herrn mittleren Alters beim Abschluss eines Kaufvertrags unterstützt. Er hatte in ein Grundstück und einen Bauernhof in Snæfellsnes investiert. Jónas war im Ausland durch den Kauf insolventer Radiosender, die er wieder aufbaute und mit gewaltigem Gewinn verkaufte, schnell zu Geld gekommen. Dóra wusste nicht, ob er schon immer seltsam gewesen war oder ob es mit dem Geld zusammenhing. Zum damaligen Zeitpunkt war er fasziniert von Esoterik und wollte ein großes Zentrum mit Wellnesshotel errichten, zwecks ganzheitlicher Beseitigung aller möglichen körperlichen und seelischen Leiden durch alternative Behandlungsmethoden. Dóra schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an Jónas’ Pläne.
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