Frída Á. Sigurdardóttir
SAGA Egmont
Ninas Geschichte
übersetzt aus dem Isländischem von Hubert Seelow und Ingolf Kaspar nach
Medan nóttin lídur
Copyright © 2000, 2018 Frída Á. Sigurdardóttir und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711586310
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
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Eine Salzsäule.
Und zwischen Kristallen
Bilder,
schlängeln sich vorwärts
durch die engen Gänge des Salzes,
Fasergänge,
bahnen sich einen Weg über Berge und Geröll,
alte Geschichten,
schmelzen Salzkristalle,
im Schein grünlichen Lichts.
Erste Nacht
Auf dem Nachttisch stehen die Freesien. Die ich wegwerfen wollte. Aufdringlich und fremd füllt ihr Duft das Zimmer. Sie passen nicht hierher.
»Freyslilien«, sagte Eirikur. »Die Lieblingsblumen deiner Mutter.« Und verbeugte sich ein wenig, schlug die Hacken zusammen. »Ich würde mich freuen, wenn du sie ihr bringen könntest.«
Er tauchte wie ein Schatten zwischen den Bäumen auf, als ich mich auf den Weg machte, und rief mir hinterher, ein gealterter Pan in einer braunen Hausjacke mit wattiertem Revers, einen bunten Seidenschal sorgfältig um den Hals geschlungen, die Hose mit Bügelfalten; ein Lord beim Abendspaziergang durch sein Reich, Pan. Nur die Blumen störten das Bild. Die Lieblingsblumen meiner Mutter. Das hatte ich noch nie gehört. Wußte nicht einmal, daß sie Lieblingsblumen hatte. Ich wußte nicht einmal, daß sich die beiden kannten.
»Ich habe deine Mutter gelegentlich besucht«, sagte Eirikur, als ahne er meinen Gedanken und meine Skepsis, ein Flackern in den Augenwinkeln, ein Lächeln.
Ich versuchte, mir die beiden im Wohnzimmer bei uns daheim vorzustellen: Eirikur, den Aristokraten von der ersten Etage, der mit Königen und Dichtern verkehrte, wie er dort auf dem alten, dunkelgrünen Sofa sitzt, bei meiner Mutter, der Putzfrau; einer Bauersfrau von den Westfjorden, verwurzelt in den mageren Grasbuckeln des Daseins. Es ging einfach nicht. Beim besten Willen nicht.
»Eine bemerkenswerte Frau, die Thordis, und begabt, ungewöhnlich begabt«, fuhr er fort, als spreche er mit sich selbst, und überraschte mich noch mehr, denn Eirikur ist niemand, der die Leute mit Lob überschüttet, ganz im Gegenteil; und schon gar nicht die einfachen Leute, denen er immer mißtraut hat. Die Kleine-Leute-Mentalität, wie er es nennt, war diesem alten Diplomaten von jeher ein Dorn im Auge.
»Kultur«, sagt er, »hat bei den kleinen Leuten noch nie gedeihen können. Nur Unkultur.«
Er lädt manchmal zu einem Glas Sherry und einem Schwätzchen ein, wenn er dazu aufgelegt ist. Und ich nehme die Einladung meistens an, weil er mich amüsiert, weil ich seine Boshaftigkeit und Wortgewandtheit mag, ganz abgesehen davon, daß er klug, gebildet und weitgereist ist. Dann sitzen wir in dem kleineren Wohnzimmer mit den hellen Brokatmöbeln und dem chinesischen Porzellan, das er sammelt, und ich fühle mich in eine andere Zeit versetzt, aus der Gegenwart zurück in längst vergangene Jahre, die ich nur aus dem Kino und aus Büchern kenne; jene Jahre, als die Zeit noch langsam verstrich und alles in festen Bahnen verlief, nach zivilisierten Regeln vor sich ging, selbst Korruption und Kriege. Und während er redet, läßt er uns von seinem Freund Larus bedienen, schickt ihn nach Kissen, Zigarren und Pralinen, läßt ihn Fenster öffnen und schließen, kleine Kuchen und Zigaretten holen. Und Larus springt, wie er es in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren getan hat, leichtfüßig und immer gleich adrett, ein alter, freundlich blickender Mann, dem die Dienstfertigkeit der Freundschaft aufgebürdet ist, und die der Armut; vielleicht sogar die der Liebe. So wird zumindest getuschelt. Und es könnte wahr sein. Das Muster stimmt auf alle Fälle.
Als junger Mann machte Eirikur mit den kleinen Leuten Erfahrungen, die er nie vergaß. Er verdingte sich einen Sommer zum Straßenbau, als er Geld brauchte; sein Vater war gerade gestorben, und er wollte hinaus in die Welt, begierig nach Bildung, Ruhm und Ehre. »Als Dichter«, sagte er, »Dichter in spe«, fügte er hinzu, und ein leises ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich fühlte, wie sich dieses Lächeln in meinem Gesicht widerspiegelte, denn beide haben wir ungedruckte Jugendträume im Gepäck; einer von seinen wurde tatsächlich gedruckt, aber keiner von uns verliert je ein Wort darüber. »Als Dichter in spe litt ich unter der irrigen Vorstellung, in der mich meine gute Mutter bestärkte, ich müsse das Volk aus eigener Erfahrung kennenlernen, in den Alltag eintkuchen, um so mit der Volksseele in Berührung zu kommen. Daher entschloß ich mich, in diesem Sommer ins Westland zu gehen.« Er schwieg, schloß die Augen und faltete die Hände, als wolle er beten. »Nicht einmal bei Dante«, fuhr er fort, »nein, nicht einmal dort habe ich etwas gefunden, das mit den elf Tagen vergleichbar wäre, die ich durchzustehen hatte. Der Gestank, Gott stehe mir bei, war so penetrant, daß mir Tag und Nacht übel war. Strümpfe wurden nie gewaschen. Oder die Unterwäsche gewechselt. Schon gar nicht die Zelte gelüftet. Die Mahlzeiten waren ein unbeschreiblicher Alptraum. Keiner dieser Männer schien je etwas von Tischsitten gehört zu haben. Sie schleckten die Messer ab, schmatzten und schlürften und gaben Naturlaute von sich, an die ich mich nur ungern erinnere. An die Nächte darf ich noch heute nicht denken. Oder die Gespräche! Das waren Tiere. Kreaturen, die nie an etwas Höheres dachten, als an Bäuche und Geschl …« und er bekam einen Hustenanfall, als diese alten Peiniger ihn wieder mit ihren Krallen packten und zu sich in den Dreck ziehen wollten.
Diese Erfahrungen mit den kleinen Leuten vergaß er nie und vergab er nie, sein ganzes Leben war Opposition gegen das, wofür sie standen.
»Pöbel und Kultur«, sagte er, »waren schon immer zwei entgegengesetzte Pole.«
Und als ich versuchte, dagegen zu protestieren, denn ich fühlte trotz allem eine gewisse Blutsverwandtschaft, da bat er mich, ihn um Gottes willen mit Proletarierromantik zu verschonen, »diesen sentimentalen Ammenmärchen des geistigen Abschaums, die gefährlicher sind für die Menschheit als alle Kernwaffen.« Und fing dann an, über die Dekadenz in der französischen Lyrik Baudelaires und Rimbauds zu sprechen.
Und das verschmitzte Lächeln, das sich auf Larus’ Gesicht gezeigt hatte, verschwand.
Ich merkte mir Eirikurs Worte und erzählte meiner Mutter Thordis diese Leidensgeschichte vom Straßenbau. Sie lachte, gab mir zu verstehen, was sie von Eirikur und »seinesgleichen« hielt und sagte, sie wolle daran denken, das Messer abzulecken, falls ihr irgendwann einmal die Ehre zuteil würde, mit einer so vornehmen Person zu Tisch zu sitzen.
Zwar war sie nicht sicher, ob sie auch die Naturlaute zustande bringen würde. »Aber ein oder zwei Rülpser müßte ich jederzeit aus mir herauspressen können.« Brach unversehens in Lachen aus und hatte die Geschichte bereits einmal gehört. Ihr Bruder Nikulas war einer von Eirikurs Zeltgenossen in jenen Leidenstagen vor beinahe sechzig Jahren. »Und du weißt ja, wie Lasi war, bevor er bekehrt wurde, nichts als Hänseln und Necken. Und sie quälten und peinigten ihn auf jede erdenkliche Weise, den armen Jungen. Und nannten ihn immer nur ›das Mädchen‹. Und schenkten ihm eine Decke zum Aussticken, als er abreiste.« Und sie setzte eine empörte Miene auf, die keine von uns beiden täuschte. Ich kannte den Humor meiner Mutter, und ihr Temperament.
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