Ihr wird schwarz vor den Augen, sie kommt erst wieder zu sich, als sie unsanft angestoßen wird, so unsanft, daß sie stolpert.
»Laß ihn in Ruhe!« Es ist Gudridur, die Stimme kalt wie eisiger Stahl, der sich ins Fleisch schneidet. Die Männer blicken ausdruckslos vor sich hin, tun, als hörten sie nichts. »Jetzt wirst du ihn in Ruhe lassen! Du hast schon genug getan …« fährt sie fort, verstummt aber und starrt mit offenem Mund auf das Tuch, das aus Sunnevas Hand auf den Boden gefallen ist. Ausgebreitet liegt es da auf der rotgetränkten Erde, blau mit breiter Bordüre und Fransen, ein Schultertuch, das nicht von hier stammt, das ist sicher, es bewegt sich leicht wie ein Lufthauch auf Erde und Steinen, mit einem Duft von unbekannten Welten in seinen Farben. Ein Geschenk dieses Tages, mit Blut befleckt, mit Tränen und Erbrochenem.
Einen Augenblick lang starrt auch Sunneva, dann reißt sie das Tuch vor Gudridurs Augen an sich, knüllt es fest in ihren Händen zusammen, während ihr Blick auf ihren Ehemann fällt, der sich sogleich abwendet.
Etwas wie ein Lächeln überzieht Gudridurs Gesicht, eine lächelnde Grimasse.
Aber nichts kann die wundersame Gewißheit zum Schweigen bringen, die sie in ihrem Innern aufwühlt, nicht Gudridurs Lächeln, nicht Stefans Augen. Nicht einmal Jakob in seinem Blut kann diese sündige Freude ersticken. Ein Leben hat gefruchtet. Endlich hat Leben gefruchtet.
Sunneva schüttelt die Erde von dem Schultertuch ab und legt es zusammen, steckt es darauf sorgfältig unter ihre Schürze. Richtet sich dann langsam auf.
Von Jakob hört man ein schwaches Stöhnen, und unwillkürlich weicht Gudridur zurück, Sunneva aber nimmt ihren Platz wieder ein. Sanft streicht sie über das reglose Gesicht, hält Ausschau nach Lebenszeichen. Grauweiße Lippen, eine leicht gebogene Nase, größer als sonst, in dem mageren Gesicht, die Augen geschlossen. Nur das blonde Haar, blutverklebt, bewegt sich bei jedem Schritt.
Jakob, ihr Freund und Bruder, umgeweht wie ein Grashalm.
Und voller Schmerz und Reue faßt Sunneva Jakobs kraftlose Hand, hält sie fest in der ihren, drückt sie, als wolle sie ihr Leben in ihn hinüberströmen lassen, läßt sie nicht mehr los, während man das letzte Stück Wegs bis zum Hof geht. Sunneva und Jakob. Ihre Hände zusammengeschlossen, eine Faust gegen den Himmel, Hände im Gebet.
»Er lebte noch sechs Tage.«
Ein schwaches Klagen durchbricht die Stille.
Nina springt von den Ruinen auf, ein schlankes Mädchen in einer schwarzen Hose und einem groben Wollpullover, mit dunklem, offenem Haar. Sie lauscht in die Stille hinaus, diese Stille, die keine Stille ist, sondern etwas ganz anderes, sie ist anders als alles, was sie kennt: ein leises Säuseln vom Strand her, aufdringlich, flüsternd, das Rauschen eines Flusses, vielstimmiges Rascheln im Gras. Diesem hohen Gras, das überall ist, wucherndes Gras, das sich einem um die Beine schlingt, alles verdeckt, verschluckt. Sie kneift die Augen zusammen und späht die Berghänge hinauf, in die Bucht hinein, aber es ist niemand zu sehen, nirgends jemand unterwegs. Nur sie hier in dieser gigantischen Landschaft. Allein.
Auf einem Stein ein Stück weit weg sitzt ein Vogel und blickt das Mädchen an. Einen Augenblick lang starrt sie zurück. Kleine Augen leuchten ihr rot entgegen, blitzen boshaft in der Abendsonne.
Die Schatten breiten sich an den Berghängen aus, rükken näher. Dunkel werdende Farben, durchlässig, man kann durch sie hindurch fallen, abstürzen. Und überall dieser starke Duft von Pflanzenwuchs, wildem, saftigem Pflanzenwuchs, vermengt mit dem Fäulnisgeruch des darunterliegenden alten Grases, ein weicher, verrottender Teppich, der bei jedem Schritt nachgibt. Stickiger Pflanzenduft. Darin eine salzige Note, roh, nach Strand, Wasser, Gebirge.
Hinter ihr ein Hof mit einem toten Mann, die Ruine eines Hofes voller Tod, und ich spüre noch immer, wie das Entsetzen seine Krallen ausstreckt, ich sehe, daß sie rasch zurückschaut, um sich zu vergewissern, daß die Ruine des Hofes noch an ihrem Platz ist, daß sie hier ist, jetzt, nicht in einer Geschichte aus vergangenen Zeiten, einer Geschichte, die sie nicht betrifft, daß sie auf Helgi und Arnar wartet, die in diese trügerischen Berge hinauf verschwunden sind, wo die Gefahren lauern, der Tod wartet; sie haben sie hier allein zurückgelassen, allein in dieser Stille.
Der Vogel fliegt mit lautem Sausen auf. Schwebt über die Meeresfläche, eine unglaubliche Flügelspannweite für einen so kleinen Vogel, er kreist, läßt sich plötzlich fallen. Setzt sich am Strand auf einen Stein, der vom Wasser überspült wird, und hat etwas Zappelndes in seinem rötlichen Schnabel.
Nina ballt ihre Fäuste.
Fünf Stunden, bald sechs.
Sie späht wieder in die Bucht hinein, die steilen Hänge hinauf. Bilder aus Reiseprospekten: majestätische Schönheit – großartige Natur – die Nähe ist anders, die Nähe ist gefährlich.
Zwei Stunden, sagten sie. Höchstens drei.
»Reg dich nicht auf, Mädchen! Sie werden schon kommen«, sagt sie laut und erschrickt vor ihrer eigenen Stimme. Zuckt dann mit den Schultern und greift nach einer Zigarette. Will sich eine anzünden.
Die Streichholzschachtel ist leer.
Sie watet durch das Gras zum Gepäck hinüber. Wühlt in den Rucksäcken.
Nichts.
Zerrt Sachen heraus, wirft sie durcheinander.
Knorr, Heinz, Melroses, grelle Farben weit im Gras verstreut. Winston, Sirius –
Ihre Hände schütteln die Rucksäcke, grapschen im Gras, wühlen, weiße Hände, die Fingernägel rot lackiert, der Lack blättert ab, schmutzig vom grünen Gras, von der Erde.
Die Hände Sunnevas und Jakobs –
Wieder hört man das Klagen, langgezogen, traurig.
Die Hände erstarren. Das Entsetzen krallt sich fest, läßt nicht mehr los, dasselbe Entsetzen wie am Morgen, als sie an einer Felsnase hing, ganz oben am Berg, und sich verzweifelt mit einer Hand festklammerte, das Geröll unter sich wegrutschen hörte. Spürte, wie es unter ihren Füßen nachgab, spürte, wie sie mitrutschte, suchend umhertastete, ins Leere griff, und dann endlich Halt, dieser Felsvorsprung, während das Geröll sich mit dröhnendem Lärm den Berg hinunterwälzte, und unterhalb nur Geröll, Steinhalden, und irgendwo weit weg etwas Grünes, unendlich weit weg –
hing in der Leere – eine Ewigkeit – allein –
schaffte es schließlich irgendwie, sich hochzuziehen, weiß nicht wie, stöhnte, schnaufte, schrie nicht, das Entsetzen war zu groß. Und dann schließlich ein sicherer Platz. Groß genug, um sich zusammenzukauern, sie will dort bleiben, weigert sich, weiterzugehen, die Lippen so starr, daß sie kaum das Nein über sie bringt, nein, nein, bleibe hier, rühre mich nicht vom Fleck.
Dann Helgis und Arnars Lachen. Und in ihr reiner Haß. Ein Gefühl, das sie noch nie erlebt hatte. Kalt, rein – Wälzt sich über das Geröll, das Lachen, steigt durch die Fußsohlen auf, während sich ein Strick um ihre Taille schnürt. Und Helgis Stimme, trächtige Kühe würden diesen Weg laufen, ohne zu schnauben, kommst du allein Bankastraeti hinunter, das ist genauso steil, und in ihr dieser Haß, eine Blume auf einer reinen, kalten Fontäne, erblüht in diesem Lachen, während die beiden sie an einen Strick gebunden hinunterziehen.
Helgi und Arnar, die Retter in der Not, der Bruder und der Verlobte. Die sie auf diese Reise gelockt haben. Knüpfen einen Strick um ihre Taille, lachen laut. Das Dreigespann Helgi, Nina und Arnar ist verloren, verschwunden, hat es nie gegeben. Und sie lacht mit, falsch, voller Rachedurst, lacht und weiß, daß sie niemals diese Wanderung über das Geröll voller Lachen vergessen wird.
Ein Windstoß, und das Wuchergras wogt, wiegt sich hin und her. Ein Tanz im Gras, langsam, faszinierend.
Ein Geruch nach feuchtem Asphalt, erleuchtete Schaufenster, Menschen in Eile, Gelächter, Rufe. Legt dem Lärm, der sich hier breitmacht, Fesseln an, hält ihn im Zaum.
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