Birna blieb stehen. Der Nebel war auf einmal dichter geworden und umhüllte ein eiskaltes Licht, sodass sie nur noch wenige Meter weit sehen konnte. Sie atmete tief ein, diesmal durch die Nase, und genoss den unverwechselbaren Strandgeruch. Am liebsten würde sie hier unter freiem Himmel schlafen, nur vom Nebel eingehüllt. Sie hatte überhaupt keine Lust, zurück zum Hotel zu gehen. Eigentlich sollte das anders sein. Eigentlich mochte sie das Gebäude, und es hatte sie stets mit kindlichem Stolz erfüllt, es zu betrachten, sogar, als es noch im Rohbau war. Das Gelände, auf dem das Hotel errichtet werden sollte, hatte sie sofort fasziniert, als sie zum ersten Mal herkam, um sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Das Grundstück lag am offenen Meer an der Südküste der Halbinsel Snæfellsnes und unterschied sich im Grunde nicht sehr von anderem Bauland in dieser Gegend, war allerdings etwas abgelegener; das Gehöft war erst zu erkennen, wenn man es fast erreicht hatte. Der Hof stand auf einem mit Gras bewachsenen Gelände, versteckt in einem schroffen, fast bis zum Meer hinunterreichenden Lavafeld.
Das Hotel war ihre weitaus beste Arbeit, viel besser als alles, was sie je entworfen hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie jetzt endlich vorankommen würde. Gefragt sein würde. Endlich eine angesehene Architektin.
Birna sah auf die Uhr. Was war nur los mit dem Mann? War er bei dieser bescheuerten Séance hängen geblieben? Die Nachricht war doch eindeutig. Sie holte ihr Handy heraus und öffnete die SMS. Doch, es stimmte. Triff mich um neun an der Schlucht. So ein verdammter Unsinn. Bevor sie das Handy wieder in ihre Tasche steckte, überzeugte sie sich davon, dass sie keinen Empfang hatte. Das war das Unangenehmste an dieser Gegend, dass man sich nie auf den Handyempfang verlassen konnte.
Sie beschloss, noch einmal zur Schlucht zu gehen. Gut möglich, dass er schon da war. Die Schlucht befand sich zwar am höchsten Punkt des Strandes, aber die Sicht war inzwischen so schlecht, dass er vielleicht dort stand und wartete, ohne dass sie ihn sah. Hoffentlich hatte er endlich seine Meinung geändert und sich von ihren Argumenten überzeugen lassen. Sie hatte schon genug Energie für die Sache verpulvert. Allerdings bezweifelte sie es, da er so vehement dagegen gewesen war. Dennoch hoffte sie, er würde ihr beipflichten. Falls es so kommen würde, war es nur ihr selbst zu verdanken. Sie hatte nachgegeben und mit ihm geschlafen. Wenn es schon nicht besonders befriedigend für sie gewesen war, dann hätte es ihr somit wenigstens etwas gebracht. Es war wichtig, mehrere Eisen im Feuer zu haben, wenn der Wettbewerb losging. Obwohl sie den Sieg eigentlich schon in der Tasche hatte, durfte er keine Fragen aufwerfen. Deshalb hatte sie es über sich ergehen lassen müssen. Was spielte ein unbedeutender Geschlechtsverkehr schon für eine Rolle im Vergleich mit einem Sieg in dem Wettbewerb?
Birna seufzte. Es war kühl geworden, und sie zog ihren Anorak fester um sich. Was war das eigentlich für ein Sommer? Sie hatte die Schlucht erreicht, konnte aber niemanden sehen. Sie rief, falls er irgendwo in der Nähe war, aber niemand antwortete. Zehn Minuten. Sie würde ihm zehn Minuten geben und dann gehen. Nein, fünf.
Erneut tönte ungewöhnlich lauter und eindringlicher Vogellärm von der Felswand, an die Birna sich gelehnt hatte. Sie erschrak und trat zwei Schritte vor. Sie hatte ein beunruhigendes Gefühl und erschauderte. Nicht zum ersten Mal. Es lag an diesem Ort. Nicht nur wegen der unerträglichen Spinner, die im Hotel arbeiteten und sich als Seelenklempner der Hotelgäste ausgaben.
Und dann diese Gäste selbst — die waren genauso schräg. Aber nicht ganz so schlimm. Nein, es war noch etwas anderes. Etwas, das langsam, aber sicher stärker geworden war, sich schon bei der ersten Ortsbegehung bemerkbar gemacht hatte. Ausgerechnet sie, die bei ihren Freunden für ihre besonders ausgeprägte, wenn auch etwas langweilige Bodenhaftung bekannt war. Birna versuchte zu lächeln, als sie daran dachte, wie Eiríkur, der hoteleigene Hellseher sich aufgeführt hatte, als sie diese Woche angereist war. Er hatte sie fest am Handgelenk gepackt und geflüstert, ihre Aura sei schwarz. Sie solle vorsichtig sein. Der Tod sei ihr auf den Fersen. Bei dem Gedanken an seinen ekelerregenden Atem und Körpergeruch verzog sie das Gesicht.
Die fünf Minuten waren vergangen. Dem würde sie ihre Meinung sagen. Sie tastete sich vorsichtig über die Steine in Richtung des Kieswegs oberhalb vom Strand. Plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Hinter ihr knirschte der steinige Boden. Sie wollte sich umdrehen, konnte es kaum erwarten, ihrem Ärger, der sich während des Wartens aufgestaut hatte, endlich Luft zu machen. Das wurde ja verdammt nochmal Zeit. Er war da. Birna schaffte es nicht mehr, sich ganz umzudrehen. Trotz des Getöses vom Vogelfelsen konnte sie das Zischen des Gegenstands, der sich durch die windstille Meeresluft auf ihren Kopf zubewegte, genau hören. Sie sah den grauen Stein im selben Moment, als er mit voller Wucht gegen ihre Stirn prallte. Dann sah sie in diesem Leben nichts mehr. Sie spürte jedoch einiges. Auf undeutliche, traumhafte Weise spürte sie, wie sie über den groben Erdboden gezogen wurde. Sie spürte die Gänsehaut, die der kalte Nebel auf ihrem nackten Körper auslöste, als ihr die Kleider vom Leib gerissen wurden, und sie spürte den eisenhaltigen Blutgeschmack im Mund und die anschließende Übelkeit. Die Socken wurden ihr von den Füßen gezogen, gefolgt von einem schrecklichen Schmerz unter den Fußsohlen. Was …? Alles war wie in einem Traum, ungreifbar. Eine Stimme, die sie gut kannte, drang an ihr Ohr, aber in Anbetracht der Dinge, die geschahen, war das doch nicht möglich. Birna versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Ein merkwürdiges Stöhnen kam aus ihrer Kehle, aber sie hatte nicht gestöhnt. All das war höchst seltsam.
Dasselbe Möwenpaar, das Birna dabei beobachtet hatte, wie es sich auf seiner Jagd nach Nahrung ins Meer stürzte, verharrte weiter draußen am Strand und verfolgte geduldig durch den Dunst die Geschehnisse. Die Gezeiten und das Meer würden den Rest erledigen. Hier musste keiner hungern.
FREITAG 9. JUNI 2006
»Ich verstehe nicht, wo Birna abgeblieben ist«, murmelte Jónas und reckte sich nach der geblümten Tasse mit dem Gesöff, das er Dóra soeben wortreich beschrieben hatte. Es war ein speziell hergestellter Tee aus Kräutern der Umgebung, der laut Jónas alle möglichen Krankheiten und Gebrechen heilte. Dóra hatte eine Tasse genommen, leicht gesüßt, und dem Geschmack nach zu urteilen, musste der Tee außerordentlich gesund sein. »Es wäre gut, wenn ihr euch kennenlernen würdet«, fügte er hinzu, nachdem er an der Brühe genippt und die Tasse vorsichtig auf die Untertasse gestellt hatte. Das Ganze hatte etwas Lächerliches an sich; Tasse und Untertasse waren sehr stilvoll, aus hauchdünnem Porzellan mit einem zierlichen Griff, der in Jónas’ großen Händen noch fragiler wirkte. Jónas war alles andere als feingliedrig, von kräftiger Statur, jedoch nicht fett, und wettergegerbt; seine ganze Erscheinung ließ darauf schließen, dass es sich um einen Mann handelte, der an Bord eines Fischkutters Kaffee aus einem Becher hinunterkippt, anstatt nach der Yogastunde an einem Damentässchen mit ungenießbarem Kräutertee zu nippen.
Dóra rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie waren in Jónas’ Büro im Hotel, und ihr Rücken schmerzte nach der langen Fahrt. An diesem Freitag war viel Verkehr gewesen, und zu allem Überfluss hatte sie auf dem Weg aus der Stadt auch noch die Kinder zu ihrem Vater nach Garðabær fahren müssen. Die Autos waren vorwärtsgekrochen, und es hatte ganz den Anschein, als führen alle Hauptstadtbewohner denselben Weg. Obwohl dies eigentlich kein Papa-Wochenende war, hatte Hannes sie gebeten, mit ihm zu tauschen, weil er nächstes Wochenende zu einem Ärztekongress ins Ausland fahren musste und die Kinder nicht nehmen konnte. Daher hatte Dóra beschlossen, Jónas beim Wort zu nehmen und das Wochenende in dem Esoterik-Hotel in Snæfellsnes zu verbringen. Sie wollte die Chance nutzen und sich erholen, eine Massage und die Entspannung genießen, die Jónas ihr versprochen hatte. Der Hauptzweck der Reise war jedoch, ihm die Schadenersatzansprüche wegen Spukerscheinungen auszureden. Dóra wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden, ihr Zimmer beziehen und ein Nickerchen machen. »Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte sie ins Blaue hinein. Dóra kannte die Architektin überhaupt nicht; die Frau hätte ebenso gut eine hysterische Alkoholikerin sein können, die abgestürzt war und sich die nächsten Wochen nicht blicken lassen würde.
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