Jónas schnaubte. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Wir wollten morgen die Entwürfe für das neue Gebäude durchsehen.« Er wühlte in irgendwelchen Papieren auf dem Tisch, offensichtlich verärgert über die Architektin.
»Vielleicht hatte sie in der Stadt was zu erledigen?«, fragte Dóra und hoffte, er würde aufhören, über diese Frau zu reden. Die Schmerzen im Rücken zogen langsam hoch zu den Schultern.
Jónas schüttelte den Kopf. »Ihr Auto steht vor dem Haus.« Er schlug mit beiden Händen gegen die Tischkante. »Aber was soll’s. Du bist jedenfalls hier.« Er lächelte Dóra zu. »Ich brenne darauf, dir von dem Spuk zu erzählen, aber das muss leider warten«, er schaute auf seine Armbanduhr und stand auf, »ich muss die Runde machen. Es gehört zu meinen Prinzipien, am Ende des Tages mit meinen Leuten zu reden. Ich kriege ein besseres Gefühl für den Betrieb und die Stimmung, wenn ich Probleme von Anfang an mitbekomme. Dann kann man besser eingreifen.«
Dóra erhob sich erleichtert. »Ja, natürlich. Wir unterhalten uns dann morgen darüber. Mach dir keine Gedanken um mich. Ich bleibe das ganze Wochenende hier, und wir haben genug Zeit, die Sache zu besprechen.« Als Dóra sich ihre Handtasche über die Schulter hängte, bemerkte sie einen üblen Geruch und rümpfte die Nase. »Was ist das eigentlich für ein entsetzlicher Gestank?«, fragte sie Jónas. »Ich hab es schon draußen auf dem Parkplatz gerochen. Gibt’s hier in der Nähe eine Lebertranfabrik?«
Jónas schnüffelte und atmete ein paar Mal rasch ein. Dann schaute er Dóra ausdruckslos an. »Ich rieche nichts. Wahrscheinlich habe ich mich schon an diesen Mief gewöhnt«, sagte er. »Unten am Strand ist ein Wal angespült worden. Je nachdem, wie der Wind steht, weht der Gestank hier rüber.«
»Und jetzt?«, sagte Dóra. »Wartest du einfach, bis der Kadaver verwest ist?« Sie verzog das Gesicht, als der Geruch sich wieder bemerkbar machte. Wenn an dem Grundstücksverkauf irgendetwas in diesem Stil zu bemängeln wäre, damit könnte man wenigstens arbeiten.
»Du gewöhnst dich dran«, sagte Jónas. Er nahm das Telefon und tippte eine Nummer ein. »Hi. Ich schicke Dóra zu dir. Zeig ihr das Zimmer und reservier ihr für heute Abend eine Massage.«
Er verabschiedete sich und legte auf. »Komm mit zur Rezeption, ich habe dir eins der besseren Zimmer mit grandioser Aussicht geben lassen. Du wirst nicht enttäuscht sein.«
Ein junges Mädchen begleitete Dóra auf ihr Zimmer. Sie war ziemlich schmächtig und reichte Dóra gerade mal bis zur Schulter. Es widerstrebte Dóra beinahe, sich von der Kleinen den Koffer tragen zu lassen, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie war froh, dass das Gepäck nicht schwer war, obwohl sie, wie immer, viel zu viel mitgenommen hatte. Dóra folgte dem Mädchen durch einen langen Flur, der aufgrund des durch die Dachfenster fallenden Lichts breiter wirkte, als er eigentlich war. Die Abendsonne beschien das dünne blonde Haar des Mädchens. »Ist bestimmt nett, hier zu arbeiten«, meinte Dóra, nur um etwas zu sagen.
»Nee«, antwortete das Mädchen, ohne aufzuschauen. »Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job. Aber es gibt nichts.«
»Oh«, sagte Dóra. Sie hatte nicht mit einer so offenen Antwort gerechnet. »Liegt es an den Kollegen?«
Das Mädchen drehte sich kurz um, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. »Ja und nein. Die meisten sind in Ordnung. Ein paar sind furchtbar langweilig.« Das Mädchen blieb vor einer Tür stehen, fischte eine Plastikkarte aus der Tasche und öffnete die Zimmertür. »Ich bin da vielleicht kein guter Maßstab. Ich hab nicht besonders viel übrig für diesen Mist, den sie den Gästen hier aufdrängen.«
Dieses Mädchen war nicht gerade die geborene Servicekraft.
»Und deshalb willst du aufhören?«
»Nee, nicht direkt«, antwortete das Mädchen und ließ Dóra den Vortritt. »Es ist etwas anderes. Ich kann das nicht genau erklären. Das ist ein schlechter Ort.«
Dóra war schon über die Türschwelle getreten und konnte das Gesicht des Mädchens nicht sehen. Ihr war nicht klar, ob sie das ernst meinte, aber ihre Stimme klang so. Dóra schaute sich in dem hübschen Zimmer um und trat an die große Fensterfront mit Blick aufs Meer. Davor befand sich eine kleine Sonnenterrasse.
»Inwiefern schlecht?«, fragte sie und drehte sich zu dem Mädchen. Der Ausblick jedenfalls — das Blitzen der sich kräuselnden Wellen und der idyllische Strand — war alles andere als schlecht.
Das Zimmermädchen zuckte die Achseln. »Einfach schlecht. Das war schon immer ein schlechter Ort. Das wissen alle.«
Dóra hob die Augenbrauen. »Das wissen alle? Wen meinst du damit?« Wenn der Ort einen schlechten Ruf hatte, von dem die Grundstücksverkäufer wussten, den sie aber nicht erwähnt hatten, hätte sie vielleicht eine Grundlage für ein Verfahren.
Das Mädchen schaute Dóra an, wie es nur genervte Teenager tun können. »Alle eben. Jedenfalls alle hier in der Gegend.«
Dóra musste lächeln. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Einwohner es an der Südküste von Snæfellsnes gab, wusste jedoch, dass das Wort alle in diesem Zusammenhang maßlos übertrieben war. »Und was wissen alle?«
Das Mädchen wurde auf einmal unruhig. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer viel zu großen Jeans und musterte ihre Zehen. »Ich muss mich beeilen. Ich sollte nicht mit dir darüber reden.« Sie drehte sich auf dem Fuße um und wollte hinaus auf den Flur. »Später vielleicht.« Im Türrahmen blieb sie stehen und schaute Dóra flehend an. »Bitte sag Jónas nicht, dass ich darüber geredet hab. Er will nicht, dass ich mich mit den Gästen unterhalte.« Sie knetete ihre linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten. »Wenn ich einen neuen Job will, brauche ich ein gutes Zeugnis. Ich würde gerne in einem Hotel in Reykjavík arbeiten.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin kein normaler Gast. Ich sage Jónas, dass du sehr hilfsbereit warst, und lasse mir von ihm die Erlaubnis geben, in aller Ruhe mit dir zu reden. Ich bin in Jónas’ Auftrag hier, um Nachforschungen anzustellen. Ich glaube, du kannst mir — und damit auch ihm — dabei helfen.« Dóra blinzelte das Mädchen an, das ihr einen skeptischen Blick zuwarf. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte Dóra.
»Sóldís«, antwortete das Mädchen. Einen Moment lang stand sie reglos in der Tür, so als wüsste sie nicht, was sie jetzt tun sollte, lächelte dann etwas traurig, grüßte und ging.
Bergur Ketilsson ließ sich Zeit. Obwohl er wusste, dass seine Frau mit dem Abendkaffee auf ihn wartete. Er wollte den Abend lieber draußen in der Natur verbringen, als mit ihr zu Hause bei beklemmendem Schweigen Eheglück zu heucheln. Er stöhnte bei dem Gedanken. Sie führten seit zwanzig Jahren eine Ehe, einigermaßen friedlich und einträchtig, aber nie sehr leidenschaftlich, noch nicht einmal während der kurzen Verlobungszeit. Sie waren beide nicht so; sie schon gar nicht. Er hatte hingegen vor kurzem entdeckt, dass er durchaus leidenschaftlich sein konnte. Ziemlich spät, mit vierzig. Sein Leben wäre sicher anders verlaufen, wenn er es entdeckt hätte, bevor er diese Transuse von Rósa geheiratet hatte. Dann wäre er vielleicht in die Stadt zum Studieren gegangen. Als junger Mann hatte er sich für die isländische Sprache interessiert, auch wenn er das nie jemandem erzählt hatte. Bei der einsamen Landarbeit hatten solche Wissenschaften nichts zu suchen. Mit trübseligem Blick spähte er über den Brutplatz der Eiderenten. Der letzte Kälteeinbruch hatte den Jungvögeln gerade schwer zu schaffen gemacht. Dieses Jahr würde es weniger Nester geben.
Er ging weiter. In der Ferne konnte er das Hoteldach oberhalb des Steinstrandes sehen. Ruhig und konzentriert betrachtete er es und versuchte, sich eine Meinung über die dortigen Geschehnisse zu bilden. Aber er konnte es nicht. Er zuckte mit den Schultern und lief weiter. Er war deprimiert und beschloss, den längeren Weg durch die Bucht zu nehmen. Das war noch nicht einmal ein Vorwand, denn er wollte wissen, wie die Brutplätze der Meeresvögel den Kälteeinbruch überstanden hatten. Er beschleunigte seinen Schritt und marschierte gedankenversunken weiter. Das Hotel war die Ursache für sein Gefühlschaos. Wenn es nicht gebaut worden wäre, hätte er, weder glücklich noch unglücklich, sein Leben zufrieden weitergelebt.
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