Die Frau nickte erneut, dann schloss sie die Augen, verwuchs mit dem Boden und verwandelte sich in einen richtigen Baum.
Astóirín fuchtelte mit einem begeisterten Gesicht vor ihr herum: „Ich meine – sieh dir das an.“
Sie schüttelte lachend den Kopf. „Fantastisch.“
Er schloss die Tür zu dem unfassbaren Gewächs auf und hielt sie ihr mit einer einladenden Geste auf.
Im Inneren erwartete sie ein spektakuläres Schauspiel.
Wesen aller Art liefen durcheinander, echsenartige Winzlinge, lebende Nussknacker, Rauschgoldengel, lustige Hutzelmännchen, Spatzen aus Pappmaché und chinesische Pantoffelhelden, lebende Schaufensterpuppen, die statt Kopf und Händen riesige Strickbälle trugen. Dazwischen spazierten einige Menschen mit riesigen Trommeln auf dem Rücken, sie trugen Gitarren und seltsame Vorrichtungen mit Mundharmonikas, Panflöten und Triangeln, sie spielten alle möglichen Instrumente gleichzeitig und sangen dazu.
Und Astóirín in der Mitte des Treibens drehte sich mit weit ausgestreckten Armen um sich selbst und strahlte wie ein kleines Kind im Spieleparadies.
„Ist das nicht cool?“, jubelte er.
Stuaire stand der Mund offen vor Staunen.
Er deutete nach oben. „Sieh dir den Himmel an!“ Sie sah hoch. Der Himmel hing voller Geigen.
Der ganze Raum war mit Musik gefüllt. „Ich weiß, du liebst Musik“, sagte er. Um sie herum fingen die Leute an zu tanzen.
Er streckte ihr die Hand entgegen.
Hinterher saß sie atemlos auf einer Wurzel und hatte Tränen in den Augen. Er saß neben ihr und wirkte irgendwie traurig. Immer wieder sah er aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Nichts.“ Er räusperte sich und starrte hinauf in den Himmel. Einige Zeit später linste er wieder zu ihr. „Bist du glücklich?“
„Ich weine vor Glück“, sagte sie und deutete auf ihr Gesicht. „Natürlich bin ich glücklich.“
Er sah zufrieden aus, und gleichzeitig noch ein bisschen trauriger.
Schließlich seufzte er und stand auf. „Wir müssen zurück.“
„Wieso können wir nicht hierbleiben?“
„Was ist mit deiner Schwester?“, fragte er. „Mit der nationalen Krise?“
Sie fühlte sich hin und her gerissen, Es dauerte eine Weile, bis sie sich durchrang aufzustehen. Als sie gingen, musste sie sich immer wieder und wieder umdrehen.
Zurück im Zug setzte sie sich in die Schaukel, die seit neuestem in der Steuerkabine hing, und schwang langsam hin und her. „Du verschweigst mit etwas“, sagte sie.
Er tat so, als wäre er völlig mit seinem Bedienerpult beschäftigt.
„Ich weiß, dass du mich gehört hast.“
Er drehte sich zu ihr um und ließ die Schultern hängen. „Du solltest eigentlich gar nicht hier sein“, sagte er traurig. „Nicht jetzt, zu dieser Zeit. Es ist gefährlich hier. Ich weiß, was passiert, und es ist meine Schuld, wenn dir etwas zustößt.“
„Wieso?“
Er deutete auf ihre High Heels. „Die Schuhe aus dem Zug. Ich hätte verhindern müssen, dass du sie in deine Welt mitnimmst. Sie tragen dich immer wieder hier her zurück. Und heute – ausgerechnet jetzt …!“ Er unterbrach sich und drehte sich um. „Du wolltest nach deiner Schwester sehen.“
Sie trat neben ihn. Er legte die Hände auf den Globus und nahm die obere Hälfte ab. Eine Art Projektor schien darin zu sein, denn auf der gegenüber liegenden Wand erschien plötzlich ein Bild, wie ein Kinofilm.
Ein Raum war zu sehen. Sie erkannte ihn sofort: das Wohnzimmer von Paul Deuxfous. Er saß auf seiner Couch. Daneben saß Eirín. Sie weigerte sich anscheinend immer noch, ihn anzusehen.
„Wie hast du es herausgefunden?“, fragte Paul gerade.
„Ich habe nachgedacht“, erwiderte Eirín schnippisch. „Man muss nur logisch kombinieren, wer dahinter steckt – dann ist es ein Kinderspiel. Dann muss man denjenigen nur noch beobachten und warten. Die Mitarbeiter überprüfen. Danach war es ein Kinderspiel! Meine Güte, Chuchot war so oft in der ganzen Welt unterwegs, und das in seiner Position?“ Sie lachte. „Und jetzt ist er verschwunden, wie ein Geist. Man muss außergewöhnlich gute Verbindungen haben, um das zu ermöglichen.“
Paul nickte zustimmend.
„Ich wusste, dass du dahinter steckst“, sagte Eirín.
„Ich wusste, dass du es wusstest“, erwiderte er.
„Ich beobachte dich schon seit Jahren“, sagte sie kühl. „Der Anschlag auf den Dogenpalast? Der Raub der Kronjuwelen vor zwei Monaten?“
„Und für nichts davon gibt es Beweise, aber das weißt du ja.“
„Die graue Eminenz hinter dem Thron“, spottete Eirín. „Und zugleich der größte Verbrecher, der jemals über diese Welt gewandert ist.“
„Seit wann wusstest du es?“, fragte er.
Eirín drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen. „Von der ersten Sekunde.“ Als sie den Arm hob, zuckte er zurück in Erwartung einer Ohrfeige. Sie legte die Hand auf seine Wange, beugte sich vor und küsste ihn.
Der Raum begann zu leuchten. Einen Moment später erklang auf einmal fröhliche Musik und über die Leinwand schwebten Herzchen; aus dem Rohr des Zugs explodierten Feuerwerkskörper und sausten durch den Waggon.
Astóirín duckte sich, als einer haarscharf an seinem Kopf vorbeiflog.
„Das Stimmungsbarometer des Zugs“, erklärte er.
„Aber … aber …“, stotterte Stuaire fassungslos. „Eirín! Sie weiß nicht einmal, was Gefühle sind! Sie hat nur ein wissenschaftliches Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen!“
„Das Stimmungsbarometer lügt nicht“, sagte Astóirín und stülpte den Deckel auf den Globus. „Lassen wir ihnen lieber ihre Privatsphäre.“
Plötzlich tat es einen Knall, und eine Klappe öffnete sich in der Decke des Zugs. Ein Trapez schwebte herunter, begleitet von einem Regen glitzerndem Silberglitter. Auf dem Trapez, das sich langsam drehte, saß niemand Geringerer als Pritorniji. Er rückte seine Fliege zurecht, sprang von dem Trapez und zog, sich verneigend, theatralisch seinen Zylinder.
„Hier bin ich wieder, der Vielgeliebte, der König der Welt, ein Kämpfer, ein Krieger, ein Erzengel, eine Legende!“
Stuaire und Astóirín sahen ihn schief an.
„Du“, sagte Astóirín genervt. „Was willst du?“
„Duuu hast mich letztes Mal in den Himmel geworfen“, klagte Pritorniji weinerlich. „Ich bin eine Ewigkeit durch das eiskalte Nichts geflogen, im Dunkeln.“
„Du hast ihn in den Himmel geworfen?“, fragte Stuaire empört.
„Ich habe ihm nur einen Schubs gegeben“, sagte Astóirín ebenso empört. „Du warst doch dabei! Kann ich was dafür, dass er nicht bremsen kann?“, und zu Pritorniji gewandt: „Du musst immer so übertreiben!“
„Ich will Rache!“, heulte Pritorniji auf. „Ich verfluche dich, Astóirín, du sollst in allen Höllen verrotten, die es in dieser und allen anderen Welten gibt!“
„Findest du nicht, du übertreibst wirklich ein bisschen?“, fragte Stuaire vorsichtig.
„Ich könnte dir die Finger brechen“, säuselte Pritorniji, ignorierte Stuaire komplett und tänzelte durch den Zug. „Mit rot glühenden Eisen.“
„Er ist übergeschnappt“, murmelte Astóirín Stuaire zu.
„Aber!“, donnerte Pritorniji und stieß seinen Spazierstock in den Boden, „das wäre noch viel zu großmütig von mir! Du hast eine wirklich außergewöhnliche, eine exquisite, eine einzigartige Strafe verdient.“
„Beruhig dich“, sagte Astóirín.
„Sie!“ Er deutete auf Stuaire.
„Was ist mit ihr?“, fragte Stuaire verwirrt.
„Sie wird für dich büßen!“, rief Pritorniji.
„Wieso ich? Was habe ich denn getan?“, fragte Stuaire empört. „Abgesehen davon, dass du generell gerade ein bisschen übers Ziel hinaus schießt?“
Er heulte laut auf. „Rache!“
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