Es klopfte an ihrer Bürotür. Sie erlaubte sich, es zu ignorieren, und öffnete ihr Mailprogramm. Zuerst sortierte sie die Meldungen auseinander. Frankreich forderte die Auslieferung von Eirín Scothdhearg, wegen Gefährdung mehrerer Menschenleben, Beschädigung eines historischen Gebäudes und Bankraub. Zudem bestand der dringende Tatverdacht, dass sie die Mörderin des Präsidenten war.
Stuaire konnte es ihnen nicht übel nehmen. Sie rief Girard an.
„Ich versuche die Ermittlungen hinauszuzögern“, erklärte er, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. „Wie lange, kann ich aber wirklich nicht sagen. Für die Presse ist das ein gefundenes Fressen. Die Gattin des Präsidenten tobt. Ihrer Meinung nach versucht Mademoiselle Eirín, die Geliebte zu decken.“
Der Verdacht war nicht an den Haaren herbeigezogen. Sie konnte die Präsidentin durchaus verstehen – von außen wirkte die Sache so gut wie eindeutig.
„Sie riskieren Ihren Job“, stellte Stuaire fest. „Wieso?“
„Weil Mademoiselle immer Recht hat“, stellte Girard lakonisch fest. „Sie wird bestimmt ihre Gründe gehabt haben.“
Stuaire schüttelte den Kopf über so viel Vertrauen. Würde sie Girard nicht so gut kennen, würde sie ihn für außergewöhnlich naiv halten.
„Was ist mit Deuxfous?“, fragte sie.
„Er hält sich bei Madame Perrin auf.“
Sie dankte ihm für die Informationen und legte auf. Ihr nächster Anruf galt ihrem zuverlässigen Assistenten.
„Milady, Sie wünschen“, meldete er sich.
„Bitte erstellen Sie das offizielle Blabla an die Bank und die französische Regierung … wir bedauern die Vorfälle, sichern unsere uneingeschränkte Kooperation zu und tun alles um zur Klärung der Ereignisse beizutragen, etcetera, etcetera.“
„Ich habe mir erlaubt, schon mal etwas aufzusetzen. Sie finden die Dokumente auf Ihrem Schreibtisch. Stuart und die Queen haben schon unterschrieben. Sie warten nur noch auf Ihre Freigabe.“
Sie überflog die Papiere kurz. Die Unterschriften des Prime Minister und der Queen waren tatsächlich schon eingeholt. „Perfekt“, sagte sie. „Was täte ich nur ohne Sie?“
„Ach, Chefin, Sie würden so untergehen“, an seiner Stimme hörte man deutlich, dass er sich das Szenario gerade bildlich vorstellte. „Der Premier kommt später vorbei und holt den Kram ab, wenn alles so passt. Er sorgt dann für die offizielle Verkündung und Übergabe.“
„Ist so in Ordnung“, sagte Stuaire. „Geben Sie es weiter. Ich muss wieder zurück nach Paris.“
„Alles klar.“ Er legte auf.
Zurück in Paris begab sie sich zum Büro von Girard.
Sein Schreibtisch war von noch mehr Dokumenten überhäuft als ihrer, stellte Stuaire ein bisschen verärgert fest.
„Haben Sie eine Idee, wo sie sein könnte?“, fragte Girard sie. „Ich muss zugeben, wir haben noch nicht den Hauch einer Spur.“
„Sie ist unter Garantie hier. Eirín würde nie den Tatort eines ungelösten Verbrechens verlassen.“
Er nickte. Das hatte ich auch vermutet.“ Er seufzte. „Die Geliebte hat noch immer keine Aussage gemacht.“
„Gar nichts?“
„Nichts. Sie gesteht nicht, sie leugnet nicht.“
Sie seufzten im Duett. „Uns bleibt nichts übrig als zu warten bis sie sich meldet!“
Sie hatten beide keine Ahnung, was sie solange machen sollten, deswegen setzten sie sich in sein Büro und redeten über die guten alten Zeiten.
Es war schon mitten in der Nacht, als Girard eine Nachricht auf seinem Handy empfing und plötzlich förmlich aufschreckte.
„Was ist?“, fragte Stuaire alarmiert. Sie war auf einmal hellwach.
„Eine SMS von einer unbekannten Nummer.“ Er hielt ihr das Mobiltelefon hin.
Dort stand nur ein Name:
Gustave Chuchot.
Stuaire saß kerzengerade. „Das ist sie!“, rief sie.
„Gustave Chuchot“, murmelte Girard und drückte auf die Gegensprechanlage. „Bernard, in mein Büro.“
Wenige Sekunden später stand der Chef de Police im Raum. Heute hatte anscheinend die gesamte Belegschaft Nachtschicht. „Monsieur?“
Girard kritzelte den Namen auf einen Zettel und reichte ihn über den Tisch. „Finden Sie alles über diesen Mann heraus.“
Stuaire hatte denselben Auftrag schon an ihren Assistenten weitergeleitet. Jetzt nahm sie Girards Handy und rief die unbekannte Nummer an, von der die Nachricht geschickt worden war.
„Dies ist der SMS-Service der Aldwych-Bank. Bitte warten Sie. Wir stellen Sie zu unserer Kundenhotline durch“, kam eine Bandansage. „Sind Sie Kundenberater? Dann wählen Sie die – “ Stuaire legte auf. „Sie hält sich wohl für witzig.“
Ihr Handy klingelte. „Meine Gebieterin. Ich habe die gewünschten Infos für Sie. Gönnen Sie mir eine Minute Ihrer kostbaren Zeit?“
„Langsam wird es lächerlich!“, sagte sie streng. „Legen Sie los.“
„Ich gebe mir eben Mühe. Aber zurück zum Thema. Gustave Chuchot. Kurz vor der Pensionierung, würde ich sagen. Arbeitet als Buchhalter in einem kleinen, unscheinbaren Mittelstandsbetrieb, so lange die dort denken können. Sein ganzes Leben lang nirgends aufgefallen. Ich habe mal seine Konten überprüft. Deswegen hat's bei mir ein bisschen gedauert … Bankgeheimnis, Sie verstehen. Sie erinnern sich bestimmt daran, dass Geneviève diesen hohen Betrag in bar abgehoben hat? Derselbe Betrag wurde am selben Tag von Chuchots Konto abgehoben. Und jetzt raten Sie mal, wie das Geld auf Chuchots Konto gekommen ist.“
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter.“
Trotzdem nahm er sich eine dramatische Pause heraus.
„Wir sprechen von niemand Geringerem als Madame Élaine Perrin.“
Danach war es eine einfache Fingerübung. Chuchot gestand sofort, er schien fast darauf gewartet zu haben. Die Präsidentin verschanzte sich einige Tage hinter einem Konsortium von Anwälten, aber letztendlich war die Beweislast erdrückend. Nachdem zuletzt auch noch der Direktor der Aldwych-Bank aussagte, der langjährige Geliebte der Perrin zu sein, blieb ihr nichts mehr übrig als zu reden. Geneviève Bonnet hatte sie engagiert, um den Verdacht von sich abzulenken. Da die Bonnet von dem Plan, den Präsidenten zu ermorden, nichts wusste, war ihr natürlich nicht klar gewesen, dass sie für die Mordnacht ein Alibi brauchte. Élaine Perrin hatte selbst klugerweise auch keinen Kontakt zu ihr gehabt, sondern Chuchot als Mittelsmann benutzt, einen absolut unscheinbaren Niemand mit einem praktischen Vergissmich-Gesicht. Selbst bei einer Fahndung hätte man ihn wahrscheinlich nicht identifiziert, er war völlig grau, nichts an ihm war so spezifisch, dass man sagen konnte: Das auf dem Foto – das ist er!
Nur, fragte Stuaire sich, wie hatte Eirín es fertig gebracht, ihn zu finden? So schnell, nur an Hand des Überwachungsvideos, ohne die Öffentlichkeit und ohne sich frei bewegen zu können?
Und wo, um alles in der Welt, war sie jetzt?
Sie fuhr zurück ins Hotel. Vor allem anderen hatte sie sich jetzt wirklich erstmal Schlaf verdient.
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Am nächsten Morgen wachte sie auf und fühlte sich wie erschlagen. Im Halbschlaf schwankte sie ins Bad und danach zum Kleiderschrank. Müde schob sie ihre Sachen hin und her auf der Suche nach irgendwas, das sie gerade anlachte. Sie hatte einfach nichts anzuziehen!
Genervt wühlte sie durch die Sachen, schlängelte sich durch die vorderste Reihe Kleiderbügel und kramte weiter. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie hier einen begehbaren Kleiderschrank hatte. Es war ein wenig duster. Sie ging weiter und weiter, zwischen Reihen und Reihen von Kleidungsstücken, die immer seltsamer wurden, auch eine Ordnung war nicht mehr ersichtlich. Langsam kam es ihr seltsam vor, wie groß konnte ein Kleiderschrank eigentlich sein? Oder war sie so übermüdet, dass es nur so wirkte? Plötzlich stieß sie auf eine Tür. Eine zweite Tür in ihrem Kleiderschrank? Wie gab es denn sowas? Sie machte die Tür auf – und klatschte sich ungläubig mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie stand in einem Zug.
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