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Sie lief zur nächsten öffentlichen Telefonzelle, wählte eine Nummer und wartete.
„Ja, bitte?“, meldete sich schließlich jemand am anderen Ende der Leitung.
„Wo ist sie?“
„Einen Moment.“ Sie hörte Tastaturen rattern. „Das Handy, das sie zuletzt benutzt hat, orten wir in Bangladesch. Dort haben unsere Leute sie vorgestern bei der Einreise gesehen.“
Sie schnalzte mit der Zunge. „Sie ist nicht mehr dort.“
„Sie kennen sie besser als ich“, gab der am anderen Ende loyal zurück. „Und Sie haben recht. Ich habe meine Augen aufgemacht und mein Hirn eingeschaltet. Sehen Sie rechts von sich den Zeitungsstand? Kaufen Sie die Times und lesen Sie die heutige Schlagzeile.“
Sie sah nach rechts. Die Überschrift schrie ihr von mehreren Titelseiten entgegen: Skandal in Paris, Mord am Präsidenten, War es die Geliebte?
„Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Buchen Sie mir ein Ticket.“
Im Flieger checkte sie die verschiedenen Akten, die ihr seit gestern Abend zugemailt worden waren. Während der bizarren Erlebnisse in der Traumwelt waren hier tatsächlich nur wenige Stunden vergangen. Sie zerlegte die neuen Daten und sendete die Bruchstücke an verschiedene Empfänger. Mal sehen, was die daraus machen würden. Bevor der Flieger abhob, lud sie sich die aktuelle Ausgabe der Times herunter. Den Rest der Zeit verbrachte sie mit Lesen.
Der französische Präsident war am Vorabend in seinem Büro tot aufgefunden worden. Die bisherigen Anzeichen für eine Affäre des Präsidenten waren am Morgen des selben Tages in den Augen der Presse eindeutig bewiesen worden, als man den Präsidenten an der Seite einer hübschen jungen Blondine ein Hotel verlassen sah, beide gekleidet wie am Tag zuvor.
Stuaire schüttelte missbilligend den Kopf. Der Präsident galt als eher umsichtiger, kühl kalkulierender Kopf – dass ihm jetzt so ein Fauxpas unterlaufen war? Kein Wunder, dass sie dort war. Ihr Mitarbeiter hatte wirklich Köpfchen bewiesen. Sie machte sich eine Notiz bezüglich seiner nächsten Gehaltserhöhung.
Die erste Tatverdächtige – so konnte sie der Zeitung entnehmen – war unter den gegebenen Umständen und vor allem in den Augen der Journalisten natürlich die Ehefrau. Stuaire rümpfte die Nase. Der Partner war immer der erste Verdächtige, Affäre hin oder her. Nummer zwei in dem Fall natürlich die Geliebte.
Informationen zur Todesursache lagen noch nicht vor.
Sie lehnte sich zurück. Den Rest des Flugs über hörte sie Musik.
In Paris wurde sie von einem Chauffeur abgeholt.
„Mademoiselle befindet sich am Tatort“, informierte der Franzose sie.
„Wo sonst“, stellte sie lakonisch fest.
Der Tatort, das wusste sie ja schon aus der Zeitung, befand sich im Elysée-Palast. Sie checkte auf der Fahrt kurz ihr Handy und ging die Neuigkeiten durch. Nichts, das wichtiger wäre als ihr aktuelles Problem.
Der Fahrer bremste. Sie stieg aus und wurde bereits vom persönlichen Assistenten des Chef de Police empfangen.
„Madame, wie schön, dass Sie wieder im Lande sind. Ihr Mitarbeiter hat uns Ihren Besuch gestern bereits angekündigt, wir haben uns erlaubt, für Sie ein bescheidenes Zimmer im Four Seasons zu reservieren.“
Sie nickte gnädig und wies mit einem Handwedeln darauf hin, dass er vorausgehen sollte.
Sie liefen die Treppen hinauf und stiegen über das orange Absperrband ins Büro des Präsidenten.
Eine Silhouette am Fenster beugte sich über einen Tisch, völlig regungslos, und studierte etwas, das außer ihr niemand sehen konnte.
Ihre Haltung war konzentriert. Durch das rückenfreie pistaziengrüne Abendkleid, das sie trug, sah man die angespannten Schultermuskeln.
Ihre Haare waren, wenn auch vom selben Rot wie bei Stuaire, wesentlich gebändigter in einen eleganten Knoten gelegt.
Als Stuaire eintrat, sah sie hoch, rollte mit den Augen und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Oh nein, bitte nicht … womit habe ich das verdient?“, wandte sie sich an den Chef de Police, der neben ihr stand. „Nicht sie!“
Stuaire war mit zwei Schritten bei ihr und umarmte sie so fest sie konnte. „An mein Herz!“ Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Die andere wand sich und versuchte sich zu befreien. „Lass das!“ Endlich gelang es ihr, sie abzuschütteln. Sie richtete sich auf und tat so, als hätte die Situation ihr nichts von ihrer Souveränität genommen.
„Ich bin kein Baby mehr!“, stellte sie dann empört fest. „Ich bin 21, also längst volljährig! Ich sorge schon seit Jahren selbst für mich!“
„Ach“, seufzte Stuaire, „für mich wirst du immer ein Baby bleiben, Eirín.“
„Das Schicksal der kleinen Schwester“, kommentierte der Chef de Police sachkundig.
Eirín wandte sich mit einem beleidigten Schnauben ab. „Was willst du hier?“
„Der französische Präsident tot aufgefunden? Wenn du hier bist, war es sicher keine natürliche Todesursache. Das hier ist gefährlich, Eirín. Das ist kein Spiel.“
„Das – ist – mein – Job“, fauchte Eirín. „Niemand hier braucht dich!“
„Lass das doch die Experten machen.“
Der Chef de Police hüstelte. „Bei allem Respekt, Madame … Mademoiselle Eirín ist die Expertin.“
Stuaire warf die Hände in die Luft. „Als hätte ich nichts anderes zu tun, als auf dich aufzupassen!“
„Du musst nicht auf mich aufpassen! Niemand hat dich darum gebeten!“
Eirín registrierte den kurzen Blickwechsel zwischen dem Polizeichef und ihrer älteren Schwester. „Oh nein, Bernard, nicht Sie! Wieso?“
Monsieur Bernard hüstelte. „Ich hielt es für angebracht nach dem letzten Fall.“
„Wie lange wird mir das noch nachhängen?“, schimpfte sie und fuhr herum. „Ich bin hier fertig!“
Damit verließ sie den Tatort.
Stuaire sah den Chef de Police an und fragte: „Wie ist die aktuelle Lage?“
Absätze knallten auf den Boden, und Eirín rauschte zurück in den Raum. „Ein Wort!“, rief sie und deutete auf Bernard. „Ein Wort, und Sie können sich jemand anders suchen!“
Dann verschwand sie endgültig.
Monsieur Bernard zuckte mit den Schultern. „Les irlandaises ...“, murmelte er, blickte Stuaire entschuldigend an und ging nach unten, um sich der Presse zu stellen.
Stuaire ließ sich ins Hotel fahren und rief den Chef vom DCRI, Gérard Girard, und den inoffiziellen Chef, Paul Deuxfous an.
„Wir haben eine nationale Krise. In 20 Minuten an der Hotelbar des Four Season“, verfügte sie und legte auf. Dann wählte sie erneut. Nach dem ersten Klingeln wurde abgehoben. „For Queen and Country!“
„Ich brauche eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung für die Nummer, die ich eben gemailt habe. Schicken Sie mir gleich den aktuellen Standort.“
Eine Tastatur klapperte im Hintergrund. „Champs-Élysées.“
„Vor 15 Minuten?“
„Elysée-Palast.“
Sie nickte. „Ich will alles im Livestream auf mein Handy.“
„Livestream ist eingerichtet. Haben Sie noch einen Wunsch?“
„Einen Platz für drei Personen an der Bar.“
„Ist schon erledigt. Girard ist Ihnen zuvorgekommen.“
„Sehr zuvorkommend von ihm.“
„Ein wahrer Chevalier.“
„Schneiden Sie sich eine Scheibe von ihm ab! Ich habe nichts anzuziehen.“
„Wenn Sie zurückkommen, sind die Schränke voll“, versprach ihr Mitarbeiter.
„Merci. Grüße ans Königshaus.“
Sie küsste in den Hörer und legte auf. Dann beantwortete sie ein paar Mails, bis es Punkt sieben war, und ging dann hinunter in die Bar. Die beiden Herren warteten schon auf sie und erhoben sich schnell von ihren Plätzen, als sie näher kam.
„Miss Scothdhearg“, begrüßte Girard sie. „Ich hoffe, bisher ist alles zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen?“ Man schüttelte sich die Hand, Küsschen links, Küsschen rechts.
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