Fís stand vor dem Wesen, mit erhobenen Händen, geschlossenen Augen und konzentriertem Gesichtsausdruck. Er tappte mit dem einen Fuß auf den Boden, als würde er den Takt zu einer unhörbaren Musik klopfen.
„Was tust du?“, rief Stuaire durch den Lärm. Die Klauen hatten bereits tiefe Risse in die Wand geschlagen. Mit einem Klirren zerschmetterte das Untier jetzt ihr Fenster. Sie hielt sich die Ohren zu. „Was ist das für ein … Ding?“
Aus heiterem Himmel begann er zu singen.
Nicht nur Stuaire war perplex, auch das Wesen hielt inne und beäugte Fís irritiert.
Er hatte eine glasklare und beruhigende Stimme. Man fühlte sich sofort in Sicherheit, man wollte sich auf den Boden legen und die Augen schließen und nur zuhören.
Sie fuhr zusammen, als plötzlich eine Hand die ihre ergriff und sie vom Boden hochzog – erst in diesem Moment merkte sie, dass sie tatsächlich dort gelegen und nur … zugehört hatte. Sie sprang auf.
„Lauf!“, wiederholte Fís und zerrte sie hinter sich her.
Das Wesen schien in eine Art Spinnennetz eingewickelt und versuchte verzweifelt, sich frei zu kämpfen. Stuaire hatte nicht mehr die Möglichkeit genauere Beobachtungen anzustellen, da sie aus der Wohnung zur Treppe gezogen wurde. Sie schüttelte ihren Kopf und konnte sich endlich von den Ereignissen losreißen.
Sie rannten die Treppe hinunter auf die Straße. Fís blieb stehen und sah zum Fenster auf. Eine riesige rußig-schwarze Wolke, schmierig irgendwie, waberte durch das zerbrochene Fenster nach draußen. Sie wirkte irgendwie … lebendig.
„Komm!“, rief Fís und rannte wieder los.
Sie lief hinter ihm her. Atemlos versuchte sie Worte heraus zu bekommen. „Was … ist das? Was sollte das … Gesinge?“, brachte sie heraus. „Und wohin laufen wir?“
„Erst mal weg.“
„Klingt nach einem gut durchdachten Plan“, keuchte sie.
„Hier rein.“ Er zog sie in einen Hauseingang, wo sie sich neben einander kauerten und versuchten, ihre Atemgeräusche zu unterdrücken. Die unförmige schwarze Wolke schwebte langsam durch die Straße. Es schien, als schnüffele sie nach ihnen.
Stuaire wagte nicht, einen Muskel zu bewegen. Sie beobachtete, wie das Ding sich langsam nach links, nach rechts bewegte, und hielt den Atem an, als es schließlich einen Fingerbreit von ihr entfernt vorüberwaberte.
Fís legte die Hand über ihren Mund und zeigte an, zu warten. Unnötig. Stuaire war ohnehin wie erstarrt, bis das Ding um die Ecke verschwand.
Fís sprang auf und half ihr hoch. „Fürs Erste ist er weg“, stellte er fest. „Aber er kommt wieder. Er hat noch nicht gefunden, was er gesucht hat.“
„Wer, er?“, platzte es aus ihr heraus. „Was ist das für ein … Objekt?“
Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Objekt! Wir sprechen hier von einem lebendigen Wesen! Ich dachte, du wüsstest, was es ist? Du hast doch sofort seinen Namen gerufen!“
„Ich??“, fragte sie irritiert.
„Ein Alptraum“, sagte er.
„Ein Alptraum?“
Er nickte.
„Ein lebender Alptraum?“
„Er muss sich aus seiner Welt verlaufen haben. Armes Ding! Kein Wunder, dass er hier nicht zurechtkommt.“
„Ist er harmlos?“
„Abgesehen davon, dass er uns fressen wollte ...“
„Armes Ding!“, wiederholte sie empört. „Armes, armes Ding, das uns fressen wollte!“
Er schüttelte den Kopf und legte ihr den Arm um die Schulter. „Er ist hungrig!“
„Und jetzt?“ Sie schob seinen Arm weg.
„Ich gehe zurück in meine Welt. Für mich ist es zu langweilig, länger zu bleiben.“
„Deine Welt?“
„Komm mit mir“, sagte er. „Wie kann man nur hier leben? Langweilig und geordnet, nichts passiert.“
Sie verzog skeptisch das Gesicht. „Ich bin hier ganz zufrieden. Mir passiert genug, das kannst du glauben.“
Er musterte sie und nickte langsam. „Rothaarige Stuaire, das glaube ich dir sofort. In unserer Welt bist du bekannt dafür.“ Er lächelte. „Schade. Es wären sicher interessante Zeiten auf mich zugekommen.“
Er umarmte sie, küsste sie auf die Stirn, drehte sich um und ging davon.
Sie sah ihm gedankenverloren hinterher. Ihre Welt – langweilig und geordnet? Träume, die in die Wirklichkeit kamen? Ein Traumfänger, der wirklich einen Traum fing? Sie blinzelte verwirrt.
Er ging die Straße entlang, als würde sie ihm gehören.
Ohne zu überlegen, folgte sie ihm – zu neugierig darauf, wo er hinging.
Zwei Straßenblöcke weiter schlenderte er die Treppen zur U-Bahn hinunter. Sie sah, wie er um die Ecke verschwand, und lief so lautlos wie möglich die Treppe hinterher.
Als sie um die Ecke spähte, sah sie ihn gerade durch eine Tür verschwinden, auf der ein großes Warnschild auf Starkstrom hinwies – Betreten nur für autorisiertes Personal gestattet.
Kurz bevor die Tür wieder ins Schloss fiel, hatte sie die Klinke in der Hand.
Sie stand vor der Tür, hielt die Klinke umklammert und zögerte kurz. „Tu das nicht“, murmelte sie zu sich selbst. „Tu das nicht.“ Dann atmete sie tief ein und schob sich durch den Türspalt. Hinter ihr klickte das Schloss zu. Vor ihr war es düster, sie konnte nur Schatten erkennen. Eine Mauer – oder ein Gebäude – zu ihrer Linken. Rechts von ihr schien sich eine weite, leere Fläche zu befinden. Kalte Luft wehte von dort, wie von einem großen Gewässer. Dass sie nicht in einem Wartungsraum der U-Bahn gelandet war, war offensichtlich. Sie drehte sich um – die Tür, durch die sie gekommen war, war verschwunden.
Irgendwie hatte sie nichts anderes erwartet.
Sie sah sich um, ob Fís noch zu sehen war, aber er war schon in der Dunkelheit verschwunden. Sie tat ein paar Schritte ins Ungewisse – und stand auf einmal im Regen.
Leichter Nieselregen fiel wie ein Vorhang über sie. Sie ging weiter, und je länger sie ging, desto stärker wurde der Regen. Bald sah sie keinen Zentimeter weit, die Kleidung klebte an ihrem Körper und ihre Haare an Kopf und Schultern. Es regnete so stark, dass sie kaum atmen konnte. Sie hatte das Gefühl zu ersticken – oder vielleicht eher zu ertrinken? Der Regen lastete so schwer auf ihren Schultern, und die nasse Kleidung zerrte so an ihren Gliedern, dass sie sich jeden Schritt mühsam abringen musste. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Haut brannte von den Regentropfen, die gegen ihr Gesicht peitschten.
Sie hielt ihre Hand über Mund und Nase, um wenigstens Luft holen zu können. Auch das half nicht viel, das Wasser schien von allen Seiten zu kommen.
Plötzlich leuchteten vor ihr zwei große runde Lichter auf, die direkt auf sie zukamen. Ein stampfendes, ratterndes Geräusch näherte sich. Das Licht blendete sie. Ein hohles, lang gezogenes Tuten erklang, dann quietschten die Bremsen, und direkt neben ihr kam ein Zug zum Stehen.
Mit einem Zischen öffnete sich die Tür des ersten Waggons, und heraus blickte ein junger Mann – vielleicht fünf Jahre älter als sie, und mit der Figur einer Spaghetti – und streckte ihr die Hand entgegen. „Bitte einsteigen!“, rief er durch den Regen. „Wir haben an diesem Bahnsteig keinen Aufenthalt!“ Er packte ihr Handgelenk und zog sie ins Innere des Zuges. Hinter ihr gingen die Türen zu.
Sie schnaufte und wischte sich Haare und Wasser aus dem Gesicht. Nachdem sie wieder etwas zu Atem gekommen war, konnte sie sich umsehen. Ihr Retter in der Not tänzelte in dem Waggon herum, der zugleich auch der Steuerungsbereich des Zugs sein musste. Ein normaler Zug konnte das aber nicht sein – so viele kompliziert wirkende Knöpfe und Schalter, eine Art Globus, den er wie ein Steuerrad zu benutzen schien, mehrere Uhren, die in unterschiedliche Richtungen liefen – eine Maschine, die in unregelmäßigen Abständen „Ding“ machte – ein Apparat, aus dem ab und an in kurzen Stößen weißer Dampf oder goldener Flitter trat, der sofort in der Luft verschwand …
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