Ihr schwirrte der Kopf. Sie sah sich im Rest des Waggons um. Dicker orientalisch wirkender Teppich bedeckte den Boden. Eine Sitzgruppe um einen runden kleinen Tisch befand sich am hinteren Ende. Die Möbel erinnerten sie an gediegene viktorianische Salons. Auch die mit Chintz bezogene Chaiselongue, die gegenüber der Sitzgruppe stand, passte ins Bild. An der Wand stand ein Kamin, in dem Feuer brannte – in einem Zug?, überlegte Stuaire kurz. Daneben ein Tisch mit wissenschaftlich aussehenden Instrumenten, jede Menge spitze Nadeln, Zeiger und Pendel. Sie fuhr herum, als auf einmal hinter ihr eine Geige ertönte. Der Mann hatte tatsächlich eine Geige unters Kinn geklemmt und spielte eine hektische Melodie. Nach ein paar Sekunden brach er ab, der Zug lenkte nach rechts, dann nickte er zufrieden. Er warf die Geige auf einen Sessel und gab dem Rohr, das über ihm aus der Decke ragte, einen Schubs, wodurch es nach oben schwenkte und an der Decke einrastete.
Theatralisch wirbelte er herum und bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck. Er sah sie an, als hätte er sie völlig vergessen gehabt und erinnere sich erst jetzt an sie, und gab sich selbst eine Ohrfeige. „Entschuldige, wie unhöflich!“ Er eilte auf sie zu, umkreiste sie einmal, den Kopf zur Seite geneigt, und musterte sie von oben bis unten. Sie drehte sich langsam um sich selbst, um ihm zu folgen. „Hallo?“, sagte sie.
Er blieb ruckartig stehen und richtete sich auf. „Hi! Ich bin Astóirín.“ Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. „Du bist in den Regen gekommen.“ Er drehte sich wieder um und betätigte einen Schalter.
„Ja, und ich friere“, stellte sie klar.
Er wandte sich ihr zu. „Natürlich. Nasse Kleidung. Im nächsten Waggon ist ein Bad, glaube ich... aber wenn du zuerst weitergehst, durch den Speisewaggon, findest du den Kleiderschrank … irgendwo da hinten ...“ Er fuchtelte mit den Händen, drehte sich wieder um, dann schien ihm noch etwas einzufallen. „Wie ist dein Name?“
„Stuaire“, sagte sie. „Stuaire Scothdhearg.“
„Das sieht man“, erwiderte er. „Gut, Stuaire Scothdhearg, das hier ist mein Zug“, er umfasste den Raum mit einer großartigen Geste, „die nächste Station erreichen wir in“, er warf einen Blick auf seine Uhr, „etwa vierzig Minuten.“ Er sah auf und bemerkte, dass sie immer noch nass war. „Deine Kleidung ist voll Regen“, stellte er fest; es klang überrascht. „Ab ins Bad. Du holst dir eine Lungenentzündung!“
Völlig verwirrt stolperte sie durch den Zug, durch verschiedene seltsame Abteile, bis sie eine Tür öffnete und auf einmal zwischen Reihen und Reihen von Kleidern stand.
Die Ordnung war undurchsichtig. Sie griff sich das erste Kleidungsstück, das aussah, als wäre es für eine Frau bestimmt, ein dunkelblaues gemustertes Cheongsam mit hochgeschlossenem Stehkragen und Schlaufenverschlüssen an der Schulter. Unter den Kleiderbergen fischte sie ein paar dunkelrote High Heels hervor. Sie klemmte sich die Sachen unter den Arm und ging durch die Waggons zurück, bis sie auf das Badezimmer stieß.
Der Zug schien gerade über unebenen Boden zu fahren, sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.
Irgendwie fühlte sie sich völlig erschlagen, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Sie konnte nicht mal einen klaren Gedanken fassen. Im Bad schälte sie sich aus den nassen Sachen und warf sie in eine Ecke. Sie war zu erschöpft sich über Kleiderschränke und Bäder in einem Zug zu wundern, der durch Geigenspielen gesteuert wurde.
Nachdem sie den Regen von Haut und Haaren gewaschen und ihre neuen Kleider angezogen hatte, fühlte sie sich wie ein anderer Mensch.
Und dann blickte sie in den Spiegel.
Sie blinzelte. Dann rieb sie sich die Augen und zwinkerte ein paar Mal. Kein Unterschied.
Im Spiegel schaute sie ein dreißig Jahre älteres Spiegelbild an.
Sie hob langsam die Hand und befühlte ungläubig ihr Gesicht. Um ihre Augen hatten sich leichte Krähenfüße gebildet. Sonst hatte sie zwar keine Falten, aber die Haut war nicht mehr so straff, trockener, und wie sie sich auch drehte und wendete, sie hatte einen leichten Ansatz zu einem Doppelkinn bekommen.
Sie schluckte. Dann trat sie ein paar Schritte und drehte sich langsam vor dem Spiegel. Wenigstens hatte sie nicht zugenommen! Ihre Figur war optisch weitgehend unverändert, aber jetzt war ihr klar, woher das ungewohnte Müdigkeitsgefühl in ihren Gelenken kam.
Sie trat nochmal an den Spiegel heran und zog besorgt ihre Haare auseinander. Keine grauen Strähnen, stellte sie erleichtert fest. Sie drehte die Locken ineinander und steckte sie mit zwei langen Nadeln am Hinterkopf fest. Dann straffte sie die Schultern und ging zurück in den Steuerungsbereich.
Der Raum war leer, und es schepperte und pfiff ohrenbetäubend. Der Globus rotierte wie verrückt. Sogar durch den allgemeinen Lärm hörte sie die Lager kreischen. Ohne lange zu überlegen rannte sie durch den Waggon und umklammerte den Ball mit beiden Händen. Die Bewegung ließ nur widerwillig nach, ihre Handflächen brannten, trotzdem ließ sie nicht los. Endlich drehte sich der Globus langsamer.
Auf einmal tauchte kopfüber Astóiríns Kopf über ihr auf. „Mille grazie.“ Erst jetzt merkte sie, wo der Lärm herkam – über ihr stand eine Klappe offen.
Astóirín kletterte durch die Luke zurück in den Zug und schüttelte ihr die Hand. „Wir haben es stabilisiert.“
Er klopfte sich Staub und Ruß von den Kleidern und strubbelte sich durch die Haare. Es regnete schwarze Flocken.
„Der arme Teppich.“ Sie verzog das Gesicht.
Er wirbelte herum und zog hektisch an verschiedenen Schaltern und Hebeln, dann zog er mit einem Haken die Klappe zu. Endlich ließ der Lärm nach.
„Der Kamin war wieder verstopft“, erklärte er. „Dann kommt der Globus jedes Mal durcheinander. Fast wäre das Gleichgewicht gestört worden.“
„Und was wäre dann passiert?“
„Ich habe es noch nicht ausprobiert. Mein armes Baby.“ Er tätschelte die Zugwand. „Vielleicht gar nichts. Vielleicht wäre der Zug implodiert. Wie auch immer. Jetzt sind wir wieder auf Kurs!“
„Auf Kurs wohin?“ Stuaire musste sich an der Wand festhalten, als der Zug mit einem Ruck nach links abbog.
„Ich weiß nicht.“ Er kratzte sich nachdenklich an der Stirn. „Die Anzeige ist mal wieder unscharf.“
Er schlug ein paar Mal gegen das Rohr über sich, dann zuckte er mit den Schultern. „Das sehen wir dann schon.“
Stuaire ließ sich in einen Sessel fallen und atmete tief durch.
Der kleine Tisch klappte plötzlich auf und ein Tablett fuhr nach oben, mit zwei Tassen, einer Kanne Tee und einem Teller mit Keksen.
„Tee!“ Astóirín rieb sich die Hände. „Genau die richtige Zeit dafür!“
Er sprang in den zweiten Sessel, die Beine über die Lehne geschlagen, und nahm sich eine Tasse.
Stuaire starrte einen Moment vor sich hin und klopfte nachdenklich auf die Tischfläche, dann setzte sie sich plötzlich auf. „Hah! Jetzt weiß ich wieder, was …“ Sie wandte sich zu Astóirín und deutete auf ihr Gesicht. „Wie ist das passiert?“
„Genetik?“, schlug er verzagt vor.
„Nicht das! Ich meine das … eben war ich noch Mitte 20, jetzt sehe ich aus wie 50?“
„Du hast dich gut gehalten“, versuchte er sein Glück.
„Darum geht es nicht! Wie kann so etwas passieren? Wo bin ich hier überhaupt? Was ist das für ein Zug, und wer – in Gottes Namen – bist du?“
„Den Zug habe ich gefunden“, behauptete er. „Oh, Kekse!“ Er nahm einen. „Was waren die anderen Fragen? Ah! Das Alter. Der Regen war das! Du bist nicht von hier, oder? Der Regen verfolgt dich … und du wirst älter und älter … bis nicht einmal mehr Staub von dir übrig ist. Naja!“ Er hob die zweite Tasse hoch. „Tee?“
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