„Ausgerechnet jetzt!“, sagte sie zu sich selbst, weil sonst ja niemand da war. „Ich habe zu tun!“
Sie marschierte durch den bekannten Speisewagen und den bekannten Badwaggon. Durch die Tür der Steuerungskabine drang ein seltsames Getöse. – Noch seltsamer als die letzten Male. Es kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie konnte es gerade überhaupt nicht zuordnen. Außerdem brauchte sie einen Tee. Und sie hatte Hunger. Sie riss die Tür auf – und blieb stehen.
Astóirín hatte ihr den Rücken zugekehrt. Er sang lauthals vor sich hin, während er den Teppich staubsaugte. Auf dem Steuerpult saß die Statue einer nackten Frau und stimmte die Steuerungsgeigen.
Stuaire räusperte sich, aber durch den Lärm hörte sie niemand.
„Hallo?“, schrie sie und schlug auf den Tisch. Prompt fuhr das Teeservice aus der Tischplatte und gleichzeitig wandten sich Astóirín und die Statue ihr zu.
„Stuaire!“ Astóiríns Augen leuchteten auf, dann sah er sie an, wurde rot und sah sofort verlegen zu Boden. „Du bist hier!“, murmelte er.
„Offensichtlich.“ Sie sah befremdet zu der Statue. Die lächelte und winkte.
Astóirín drehte sich zu ihr, dann wieder zu Stuaire, zurück zu der Statue.
„Stuaire – das ist Stuaire“, zur Statue gewandt, und zu Stuaire: „Lady Godiva. Mein Zug.“
„Dein Zug?“, fragte Stuaire ihn.
„Stuaire?“, fragte die Statue ihn.
Er sah von der einen zur anderen, zurück, und wieder zurück. „Stuaire. Lady Godiva.“ Er kratzte sich verwirrt an der Stirn.
„Zwei nackte Frauen sind mir zu viel. Stuaire, würdest du dir bitte etwas anziehen?“
Stuaire sah an sich herunter. Damit war sie ja gerade beschäftigt gewesen – sich anzuziehen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie das noch nicht getan hatte. Das einzige, das sie schon trug, waren ihre roten High Heels.
Sie deutete auf die Statue. „Wieso zieht nicht sie sich an?“
„Sie ist ein Zug!“
„Ich werde diskriminiert“, sagte Stuaire. „Nur weil ich wegen deinem Regen uralt bin und dann kommt da so eine Statue daher ...“
Astóirín sah sie traurig an. „Stuaire“, sagte er, „Stuaire Scothdhearg, du bist noch so jung! Du weißt, dass meine Zeit anders verläuft als deine. Ich kenne dich aus Zeiten, in denen du älter bist. Und glaub mir, jetzt bist du unglaublich jung. Soviel liegt noch vor dir.“
„Frauen und ihre Komplexe wegen dem Altern“, warf die Statue fröhlich ein.
„Na, du kannst ja nicht altern“, gab Stuaire schnippisch zurück.
„Außerdem“, schob Astóirín hinterher, „war es nicht mein Regen!“
„Du kennst meine Zukunft?“, fragte Stuaire.
„Zieh dich bitte an!“, sagte Astóirín und schob sie Richtung Tür. „Ich kann mich sonst nicht konzentrieren.“
„Kann er wirklich nicht“, flötete die Statue.
„Ach, aber wenn sie so rumläuft, kannst du das schon?“
„Sie ist eine Statue!“, betonte er.
„Das ist wahr“, sagte die Statue. „Er interessiert sich nicht dafür. Da könnten tausend nackte Frauen hier vorbeilaufen.“ Sie sprang vom Steuerpult und pfiff. Durch die Waggontür trabte ein Pferd herein. Auch das Pferd war aus Stein. Sie schwang sich in den Sattel, winkte und ritt davon.
Stuaire warf Astóirín einen schiefen Blick zu. Er war rot geworden. Irgendetwas wurde ihr hier verheimlicht.
Sie ging zurück und zog sich an. In dem Sammelsurium fand sie Jeans und eine weiße Bluse. Barfuß kehrte sie in die Steuerkabine zurück, die Schuhe in der Hand. Der Staubsauger war verschwunden. Astóirín klopfte soeben gegen das Rohr und drehte vorsichtig den Globus. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
Stuaire ließ sich in den Sessel fallen und nahm eine Tasse Tee.
„Was mache ich schon wieder hier?“, fragte sie. „Ich habe eine nationale Krise daheim, die noch nicht bewältigt ist.“
Astóirín setzte sich. „Viele Probleme lösen sich von selbst, wenn man lange genug wartet“, sagte er fröhlich.
„Das sicher nicht!“
Er zuckte mit den Schultern. „Jetzt bist du eben hier. Die Welt wird es schon verkraften. Frühstück?“
„Hatte ich nicht schon erwähnt, dass ich Hunger habe?“
„Nein, aber ich kenne diesen Blick.“
Er drückte auf eine Klingel.
Die Tür zum Speisewagen öffnete sich und ein Tisch auf Rädern fuhr herein, bereits fertig gedeckt: Fischstäbchen und Pizza.
Astóirín nahm ein Stück Pizza und biss ab.
„Das ist doch kein Frühstück“, sagte sie pikiert.
Er legte es schnell zurück, wie er meinte wohl unauffällig, und schüttelte empört den Kopf. „Allerdings nicht“, sagte er mit einem Blick wie ein Kind, das mit der Keksdose erwischt worden war. „Ich meine, pfff, wer isst sowas schon zum Frühstück.“ Er gab dem Tisch einen Schubs zur Tür. „Und gib dir diesmal mehr Mühe!“, rief er ihm hinterher.
Stuaire verdrehte nur die Augen. „Du bist so ein schlechter Schauspieler.“
„Ich mag eben Pizza“, verteidigte er sich. Der Tisch kam zurück, diesmal mit Rührei, gebackenen Tomaten und Bohnen auf Toast.
„Siehst du – langweilig!“, sagte er. „Ich muss in den Keller. Ich glaube, da hat sich mal wieder so ein Tagtraum versteckt. Iss und trink.“
Er öffnete eine Luke im Boden und stieg eine Treppe hinunter. Kurz darauf hörte sie Quietschen und Gackern, dann ein metallisches Klappern. Astóirín schimpfte lautstark. „Verdammtes Biest! Raus mit dir!“ Ein Flattern war zu hören.
Er kam wieder die Treppe hoch, mit einer Art altmodischen Milchkanne in der Hand. „Hab ihn erwischt.“ Er wirkte abgekämpft. Nachdem er das Zugfenster aufgeschoben und die Kanne nach draußen geworfen hatte, ließ er sich erschöpft in den Sessel fallen. „So. Fertig mit Frühstück? Wir sind fast da.“
Sie aß auf und legte ordentlich ihre Serviette auf den Teller. Nicht mal einen Augenblick später quietschten die Bremsen des Zugs.
Sie stiegen aus und Stuaire hielt sich sofort die Augen zu, so geblendet war sie von der Helligkeit. Nachdem sie sich langsam daran gewöhnt hatte, sah sie sich um. Vor ihnen lag ein atemberaubender Strand. Winzige, gehämmerte Bronzeplättchen fügten sich zu einem von Sonnenlicht gleißenden, blendenden Boden zusammen, der zu brennen schien. Die Plättchen reichten bis ins Meer hinein, sodass man keine Übergangs- oder Nahtstelle sah, und zur anderen Seite bis weit ins Land hinaus. Aus dem Boden wuchsen Bäume und andere Pflanzen aus Bronze.
Sie wandte sich Astóirín zu. Er trug eine Sonnenbrille und grinste sie an. „Bereit für einen Ausflug?“
„Wow“, sagte sie. „Ich meine – wow!“
„Ich weiß!“
Sie konnte gar nicht aufhören, sich umzusehen. „Das ist unglaublich!“
Er schien sich zu freuen. „Es gefällt dir also?“, vergewisserte er sich.
Sie konnte nur noch nicken.
„Dann sieh dir erst mal den Rest an.“ Er zerrte sie hinter sich her.
Sie rannten den Strand entlang. Sie ließ sich mitziehen und lachte ungläubig. „Ist das ein Traum?“
„Der allerbeste!“, rief er zurück.
Sie gelangten an einen riesigen, ja einen wirklich unglaublich großen – um nicht zu sagen: gigantischen – Baum aus Bronze. Er ragte in den Himmel hinauf wie ein Hochhaus, wie ein mindestens zwanzigstöckiges Hochhaus, überlegte Stuaire.
Vor dem Baum stand eine Frau, die aussah wie ein richtiger Baum, aus Holz. Aus ihrem Kopf wuchsen zwei lange, gewundene Hörner, die aus purem Gold zu sein schienen. Sie nickte ihnen hoheitsvoll zu.
„Das ist die Torhüterin“, erklärte Astóirín stolz. An die gehörnte Frau gewandt verbeugte er sich schwungvoll und sagte: „Den Schlüssel, bitte.“
Sie öffnete den Mund und rollte eine lange, rindenartige Zunge aus, auf deren Spitze ein Schlüssel lag. Astóirín nahm ihn entgegen und verbeugte sich erneut. Er stupste Stuaire mit dem Ellbogen an. „Du auch!“, flüsterte er. Stuaire sah ihn irritiert an, dann machte sie einen kurzen, etwas ungelenken Knicks.
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