»Ich habe keine Lust auf einen Spaziergang«, meldete sich die Mutter. »Ich habe jetzt auch nicht die Kraft dazu.«
»Mama!«, fuhr Carla sie an. »Du sitzt hier schon den ganzen Morgen auf dem gleichen Sessel. Gestern hast du nur gelegen. Auch wenn du noch müde von der Spritze bist. Du musst mal andere Luft schnappen!« Sie wurde so intensiv während der Aussage, dass die Mutter einwilligte und ihre Handtasche suchte.
»Hier liegt sie unter dem Dielentisch. Bei dem ganzen Durcheinander mit der Spurensicherung und den anderen Beamten ist sie wohl irgendwie darunter gefallen.«
Die Mutter öffnete den Magnetverschluss der Tasche, bekam aber den Reißverschluss darunter nicht auf. Carla musste helfen.
»Was suchst du denn?«
Den Spiegel und den Lippenstift. Carla fand beides sofort und ihr fiel auf, dass ihre Mutter ihre Handtasche noch immer so aufgeräumt hatte, wie sie es als Teenager immer für spießig gehalten hatte. Sie trug damals immer nur ein Hirtentäschel bei sich, in das man einfach alles hineinwarf. Sie sah Mutters Handy und nahm es aus der Tasche. Es gab mehrere Meldungen über unbeantwortete Anrufe.
»Hier bitte, Mutter, jede Menge Anrufe für dich. Möchtest du nachsehen?«
Die Mutter nahm es an sich. »Alle nicht so wichtig«. Sie blätterte durch. »Nur die Vereinskameradinnen und Opa Conrad. Lasst uns zuerst einmal den Spaziergang machen. Dann kann ich heute Abend alle nacheinander zurückrufen. Opa hat mir vorhin schon gesagt, dass er auf dem Handy angerufen hat.«
Als sie gerade aus dem Haus traten, hörten sie einen Wagen die Einfahrt heraufkommen. Es waren die Kommissare Berendtsen und Schwertfeger. Sie warteten ab.
»Guten Morgen Familie Friedmann.« Berendtsen hatte schon wieder ins Fettnäpfchen getreten. Er hatte zeitweise so Aussetzer, die er schon oft hatte ausmerzen wollen, aber es passierte eben. »Ich meine: guten Morgen Frau Friedmann.« Er gab der Mutter die Hand, dann der Tochter. »Frau Friedmann, Herr Friedmann.« Er knöpfte sein Jackett offen. »Dürfen wir beide noch einmal stören? Wir habe nur einige kurze Fragen an ihre Mutter. Es wird nicht lange dauern.«
Peter schlug vor: »Dann lassen Sie uns einige Schritte gehen. Wir haben Mutter gerade vorgeschlagen, einen kleinen Spaziergang mit uns zu machen. Gehen Sie beide mit uns einige Schritte?
»Ja gerne.«
Sie machten sich schweigend auf den Weg. Als sie am Hoftor angekommen waren, fing Schwertfeger an:
»Wie fühlen Sie sich, Frau Friedmann?«
»Bescheiden.«
Berendsen stellte die erste Frage: »Frau Friedmann, ich nehme an, Sie haben keine Idee, wer ihrem Mann das angetan haben könnte?«
Sie schüttelte nur den Kopf. Und ging weiter. »Mein Mann war ein sehr lieber Mensch und den Mitbewerbern nie ein Dorn im Auge. Ich kann nur immer wieder betonen, dass ich keine Ahnung habe, wer das getan haben könnte.«
»Kennen Sie vielleicht das Mädchen, das gestern Nacht im Lamm ermordet wurde? Frau Maria Koráshvili?«,
»Ich habe davon gehört, Herr…? »
»Schwertfeger.«
»Herr Schwertfeger, aber ich kenne niemanden, der so heißt. Überhaupt nicht eine Person mit ‚vili‘ am Ende oder meinetwegen auch so ähnlich.«
»Verhielt sich ihr Mann vielleicht in den letzten Tagen oder Wochen anders als sonst?«, fragte er weiter.
»Nein. Außerdem war er ja fast die ganze Woche nicht zuhause.«
»Er war in Larnaka in einem Ihrer Hotels?«
»Ja sicher«
»Unsere Abteilung hat gründlich nachgeforscht. Wir haben auf ganz Zypern kein Hotel gefunden, das mit Ihrem Mann in Zusammenhang gebracht werden kann.«
»Dann sollen sie noch mal genauer nachsehen. Es heißt ›Kalirosa ‹ und befindet sich in Limassol«.
Berendtsen wollte es genauer wissen: »Haben Sie vielleicht eine Adresse?«
»Alle Dokumente, die Sie brauchen«, erwiderte Peter, »stehen in den Rechnern, die sie konfisziert haben. Sie brauchen nur nachzusehen. Übrigens, wann bekommen wir diese zurück? Und, was noch wichtiger ist: wann können wir unseren Vater beerdigen?«
»Zu den Computern kann ich nichts sagen, aber der Leichnam ist freigegeben. Sie können alles Notwendige veranlassen.«
»Danke«
Die beiden Kommissare gaben auf. Sie blickten sich an und kamen ohne Worte zu dem Schluss, dass sie hier nichts Weiteres zu fragen hatten. Also verabschiedeten sie sich und gingen zum Auto zurück. Kurz darauf hörten die drei Autotüren schlagen und dann fuhren die beiden an ihnen vorüber, nicht ohne noch einmal anzuhalten. Schwertfeger ließ das Fenster herunter, händigte seine Karte aus und dann kam, was kommen musste:
»Wenn einem von Ihnen noch etwas einfällt…«
»..melden wir uns«, ergänzte Peter.
Der Wagen fuhr in Richtung Hauptstraße, hielt nach einigen Metern an und fuhr rückwärts. Berendtsen stieg aus, kam um den Wagen herum und holte ein kleines Couvert aus seiner Jackentasche, entnahm einen Zettel, auf dem er die Zeichenfolge der Karte aufgeschrieben hatte und zeigte diesen den Dreien.
»Kann einer von Ihnen damit etwas anfangen?«
Peter musste sich beherrschen. »Was ist das?«
»Diese Zahlen waren auf einem Magnetstreifen einer Art Hotelkarte, die das gleiche Aussehen hatte, wie der Zettel, den wir mit Ihrer Adresse bei dem Mädchen gefunden haben: das gleiche Logo, die gleichen griechischen Buchstaben. Wir haben die Karte ebenfalls bei dem Mädchen gefunden. Sie hatte ihn an ihrem Oberschenkel unter einem Pflaster versteckt.«
Peter prägte sich den Code ein. »23817 GE - 21203«, las er vor. »Was soll das bedeuten?«
»Wir dachten, Sie könnten uns dabei helfen.«
»Es wird ein Passwort sein«, schlug Carla vor, »denn ein Kreditkarten-Pin kann es nicht sein… wegen der Buchstaben.«
»Zu dem Computer Ihres Vaters passt es nicht. Der ist für uns keine Hilfe. Alles ist in einer Cloud ausgelagert und wir kommen nicht dran. Wir haben sogar EDV-Experten vom LKA angefordert, aber keiner von diesen sogenannten Fachleuten ist bisher dahinter gekommen. Wir haben schon bei verschiedenen Providern nachgefragt, aber wir kommen einfach nicht weiter. Sie wissen nicht zufällig, wohin er seine Daten ausgelagert hat?«
»Nein, ich habe wohl die Internetadressen, aber die werden sie ja schon haben. Ich weiß auch gar nicht, warum er solche geheimnisvollen Dateien haben soll. Sind Sie denn überhaupt sicher, dass er solche Dateien hat?«
»Er muss ja irgendwelche Dateien haben, aber der Rechner ist leer. Das Passwort zum Start haben wir. Es war einfach zu finden. Wenn er diese Dateien irgendwo ausgelagert und so sehr versteckt hat, dass man sie nicht finden kann, dann sind unserer Erfahrung nach immer Geheimnisse darunter.«
Peter las noch einmal laut vor, auch um sich den Code zu merken. »…könnten es Datumsangaben sein… Ich meine, wenn man mal von den Buchstaben absieht?«
»Vielen Dank jedenfalls für die Mühe. Die Adresse von uns haben Sie ja.«
Peter diktierte diese Zahlen- Buchstabenkombination direkt in sein iPhone. Mit Blick auf seine Mutter und Carla forderte er: »Damit nur eines klar ist: dieser Code bleibt unter uns dreien. Er findet keine Erwähnung bei niemandem. Am besten, ihr vergesst ihn direkt wieder.«
Die Mutter verstand. Carla blickte ihn fragend an: »Warum? Gibt’s damit ein Problem?«
»Ja. Es scheint Leute zu geben, die so gierig darauf sind, dass sie dafür Menschen umbringen.«
»Soll das heißen…«
»Ja. Das soll das heißen«, sagte die Mutter bestimmt.
»Warum verschweigt Ihr beiden denn mir und der Polizei, was Ihr wisst? Das verstehe ich nicht«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich verstehe das nicht. Wirklich nicht!«
»Weil diese Leute das nichts angeht!« Carla merkte den sauren Unterton in der Stimme ihrer Mutter und stellte keine weiteren Fragen. Sie hoffte, das Peter, der ihr mehr zu wissen schien, ihr später mehr darüber erzählen würde.
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