Vor der „Sonne“ standen in der Kirchgasse einige Tische und Stühle, das Wetter war schön warm und die Wandergruppe saß draußen. Auch der Pfarrer trank einen Schnaps und ein Bier, mehr aber nicht, schließlich wollte der Gottesmann nicht als Säufer dastehen. Nach einer Stunde gemütlichen Erzählens und Trinkens löste sich die Wandergruppe wieder auf, und jeder ging zu sich nach Hause. Rohrmosers und Stegmüllers liefen ein Stück zusammen, bis sich kurz vor Erreichen ihrer Höfe ihre Wege trennten, und die einen nach links und die anderen nach rechts schwenkten. Der Glen machte sich an diesem Abend fertig für seine nächtliche Exkursion zum Wolfskopf, er traf sich in dem Tannenwald immer mit den Waldbewohnern, das machte er schon seit Längerem so, denn unter den Menschen hatte er keine Freunde. Er war auf dem Wolfskopf ein gern gesehener Gast und eine geachtete Persönlichkeit geworden und er hatte ein Auge auf Tola, die Tochter des Waldkönigs geworfen und wenn er sich nicht irrte, war auch Tola in ihn verliebt. Niemand in Kregelbach wusste etwas von den Beziehungen, die der Glen zum Wald am Wolfskopf unterhielt und von seinen Bekanntschaften dort. Seine Eltern wunderten sich nur manchmal, wenn er tagelang nicht zu sehen war und wenn sie ihn nach seiner Rückkehr fragten, sagte er bloß, auf Stellensuche in Waltershausen oder in Irmstadt gewesen zu sein, die Eltern beharrten nicht und ließen es bei seiner Antwort bewenden.
Was hätten sie auch sonst tun sollen, ihr Sohn war einundzwanzig und volljährig. Der Glen machte seinen Rucksack fertig und legte auch seinen Laptop bereit, denn er würde beim Waldvolk Computerspiele spielen, er hatte sich ein ganz neues Spiel heruntergeladen, die Leute beim Waldvolk waren Computerfreaks. Ohne sich von seinen Eltern zu verabschieden verließ der Glen gegen 19.30 h das Haus und schlich sich an der Tankstelle und den Tennisplätzen vorbei zum Heiligenhäuschen, dort blieb er stehen und drehte sich um, er schaute, ob ihm auch niemand gefolgt war und konnte keinen Menschen sehen. Als der Glen im Wald war, gab er seine gebückte Haltung auf und bewegte sich völlig frei und ungezwungen, der Wald war sein Zuhause, hier fühlte er sich geborgen und er lief strammen Schrittes bis zum Sattel hoch. Dort zweigte, nicht für jeden sichtbar, ein sehr schmaler Pfad ab, der einmal ein Saumpfad gewesen sein mochte, und der an seinem Anfang von Farn überwuchert war, weshalb man ihn nicht bemerken konnte. Nachdem der Glen in den Pfad eingebogen war und auf dem Wege war, das Reich des Waldvolkes zu betreten, stieß er einen Pfiff aus, einen ganz charakteristischen Pfiff, der aus nur acht Tönen bestand und als Erkennungsmelodie galt.
Unmittelbar danach vollzog sich ein Wandel in der Ausgestaltung der Umgebung, der Glen sah sich mit einem Mal in ein von der Sonne beschienenes Dorf versetzt, das zum Reich von König Joda gehörte, ein Reich, das für den Menschen normalerweise nicht zugänglich war, es entzog sich seiner Wahrnehmung. Es war nur dem zugänglich, dem Joda den Zutritt gestattete, so wie dem Glen, für den der Zutritt eine Art Belohnung war. Denn der Glen hatte vor nicht allzu langer Zeit einmal einem Argin, so der Name des Volkes von König Joda, geholfen, in sein Reich zurückzukehren, nachdem er es aus Versehen verlassen hatte und hinter einem Farn versteckt auf dem Sattel im Wald gestanden hatte. Der Glen war mit seinen Eltern zum Wolfskopf unterwegs, als er den Argin auf dem Sattel bemerkte, seine Eltern hatten davon gar nichts mitbekommen und waren weitergelaufen. Der Glen aber sah ihn hinter dem Farn und sprach ihn an und der Argin, der in etwa die Körpergröße des Glen hatte und auch wie ein Mensch aussah, war sehr verschreckt und schaute den Glen ängstlich an. Der wusste gar nicht, was er mit ihm anfangen sollte, denn sprechen konnte er nicht mit ihm, die Argin hatten eine eigene Sprache. Er war eine ganz besondere Erscheinung, so viel war dem Glen klar, und als der Argin hilflos um sich schaute und der Glen genau hinsah, konnte er den schmalen Pfad entdecken. Er nahm den Argin bei der Hand und lief mit ihm ein Stück den Pfad in den Wald entlang. Als er mit ihm eine Stelle erreichte, an der sich zwei mächtige Äste zweier riesiger Tannen kreuzten, stieß der Argin einen Pfiff aus, der aus acht Tönen bestand, die eine völlig fremd anmutende Melodie ergaben, die keiner Tonalität folgten.
Die acht Töne standen in Intervallen zueinander, die weder Sekunden noch Terzen oder Quinten waren, sie ergaben ein für Menschen vollkommen ungewohntes Klangbild. Nach der Tonfolge verwandelte sich die Umgebung und der Argin wurde in eine andere Welt aufgenommen, gleich danach änderte sich alles wieder und der Glen stand wieder in seinem Wald. Er rannte schnell seinen Eltern hinterher und sagte auf deren Nachfrage hin, wo er denn so lange geblieben wäre, dass er austreten gemusst hätte. Er hatte sich die Tonfolge gemerkt, die der Argin gepfiffen hatte und ließ sie sich immer wieder durch den Kopf gehen, damit er sie nicht vergaß. Wieder zu Hause, nahm er einen Zettel und notierte die Tonfolge in Notenlinien, nahm seine Blockflöte, die er noch aus seiner Kinderzeit bei sich im Zimmer liegen hatte und spielte die Töne nach, so lange, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Wenn er draußen war und durchs Dorf lief, summte oder pfiff er die Melodie nach und die Leute, die ihm begegneten, hörten, was er summte und schauten sich verstört nach ihm um, denn die Melodie musste einfach jedem fremd erscheinen. Der Glen behielt sein großes Geheimnis für sich, er erzählte niemandem von seiner Begegnung mit dem Argin und von dem versteckten Pfad, der auf dem Sattel des Wolfskopfes abzeigte.
Eines Tages machte sich der Glen wieder zum Sattel auf, teilte den Farn, der den Blick auf den Pfad verdeckte und lief zu den beiden mächtigen sich kreuzenden Tannenästen, stellte sich unter sie und pfiff die fremd anmutende Melodie. Sofort verwandelte sich der ihn umgebende Wald in ein liebliches von der Sonne beschienenes Dorf, in dem die Argin glücklich und zufrieden zusammenlebten und eigentlich keiner zielgerichteten Tätigkeit nachgingen, sondern sich nur zu vergnügen schienen. Als sie den Glen wahrnahmen, kam gleich der Argin auf ihn zu, dem er vorher die Rückkehr in das Jodareich ermöglicht hatte und nahm ihn bei der Hand, um ihn zu seinem Haus zu führen. Dort setzte er sich mit ihm hin und bot ihm etwas zu trinken an, das er nicht kannte. Es war ein grünlicher Saft, der von ihm unbekannten Früchten stammte und so gut und erfrischend schmeckte, wie er selten einen Saft getrunken hatte. Der Saft enthielt wohl auch eine Spur Alkohol, die aber nicht ausreichte, um den Glen betrunken zu machen. Er konnte sich mit einem Mal auch mit dem Argin verständigen, denn seine Sprache hatte sich mit dem Übertritt in das Jodareich ebenfalls gewandelt. Der Name des von ihm geretteten Argin war Tabor, und er war ein freundlicher Zeitgenosse. Auf die Frage des Glen hin wie alt er wäre, antwortete Tabor:
„Nach menschlichen Maßstäben bin ich ungefähr dreiundfünfzig“ und der Glen wunderte sich, denn danach sah Tabor wirklich nicht aus, eher nach zwanzig. Als der Glen seinen Saft getrunken hatte, stand er auf und sagte:
„Ich muss wieder zurück!“
Tabor fand es schade, dass er wieder gehen musste und brachte ihn zu der Stelle, an der er das Arginreich betreten hatte, pfiff die Melodie und der Glen war wieder in seinen heimischen Wald am Wolfskopf verschwunden. Er lief den Pfad bis zum Sattel entlang, um von dort ins Dorf zurückzulaufen. Er nahm sich vor, von dem Tage an den Argin öfter einen Besuch abzustatten und hüllte sich ganz in Schweigen, was sein Erlebnis bei seinen neuen Freunden anbelangte. Er sollte in der Folgezeit völlig mit seinem Leben in Kregelbach abschließen und bei den Argin eine neue Heimat finden, wenngleich er noch nicht so weit war, ganz bei ihnen zu bleiben, er hielt sich die endgültige Entscheidung noch offen. Er entfremdete sich immer mehr vom normalen Dorfleben, er ging ja auch keiner geregelten Beschäftigung nach und nahm auch nicht bei den Zusammenkünften im Heimatverein oder in der Bürgerinitiative teil. Er würde im Übrigen auch nicht so gern dort gesehen, denn der Glen war ein Sonderling, mit dem niemand gern etwas zu tun hatte. So machte er es sich zur Angewohnheit, abends loszuziehen und zum Sattel hochzulaufen, um von dort zu den Argin zu gehen. Immer nahm er zu seinen Unternehmungen seinen Laptop mit, um mit den Argin zu spielen oder andere Dinge mit dem Computer anzustellen. Oftmals war er tagelang weg, ohne dass einem Dorfbewohner das aufgefallen wäre und seine Eltern schauten ihn immer verwundert an, wenn er wieder auftauchte.
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