Bauer Rohrmoser hatte sich früher stark in die Gemeindepolitik eingemischt und war Mitglied im Gemeinderat, als man ihm einmal das Bürgermeisteramt angetragen hatte, lehnte er aber ab, weil er auf seinem Hof genug Arbeit hatte und sich nicht auch noch um die politischen Geschicke in seinem Ort kümmern konnte und auch nicht wollte. Er engagierte sich aber bei den Befürwortern der Ortsumgehung und mischte da in den vordersten Reihen mit, war aber angesichts leerer Kassen bei Land und Kommune natürlich auch machtlos. Er dachte an Peter, wenn er sich für die Umwelt einsetzte, Peter sollte ungestört und ohne Gefahr mit seinem Rollstuhl durch das Dorf fahren können. Das Verhältnis zu den Stegmüllers, Rohrmosers Nachbarn, war freundschaftlich, wenngleich auch nicht unbelastet. Beide Familien lebten schon seit undenklichen Zeiten in Kregelbach und es hatte einmal in grauer Vorzeit eine Hochzeit zwischen Anna Stegmüller und Alois Rohrmoser gegeben, die unter keinem guten Stern stand, und die Ehe wurde schon nach zwei Jahren wieder geschieden. Stegmüllers sagten, Alois wäre fremdgegangen und hätte Anna betrogen, Rohrmosers behaupteten, Anna hätte sich jedem hergelaufenen Lumpen hingegeben. So entstand ein Familienstreit, der so schnell nicht beigelegt wurde, bis man sich aber vor nicht allzu langer Zeit zusammensetzte und das Kriegsbeil begrub.
Herr Rohrmoser und Herr Stegmüller setzten sich schon mal in die Sonne und tranken dort zusammen ein Bier, sie sprachen dabei über die Entwicklung der Milchpreise, über die anstehenden Wahlen zum Vorstand im Bauernverband und andere Themen aus der Landwirtschaft, über ihre Familien redeten sie so gut wie nie, für beide war der alte Zwist beigelegt und sie wollten nicht wieder daran rühren. Der Besitz von Stegmüllers umfasste den Südosten bis fast zum Holzeinschlag, auch deren Ländereien reichten bis an den Eulenwald im Süden. Bauer Stegmüller hatte wie Bauer Rohrmoser einen Milchviehbetrieb, er hatte nur unwesentlich weniger Kühe als Bauer Rohrmoser, ungefähr hundertachtzig Stück, und auch er hielt nebenher Schweine, deren Anzahl sich um die sechzig bewegte. Stegmüllers hatten zwei Töchter, Gertrud und Maria, die aber nicht mehr in Kregelbach lebten, sondern nach Irmstadt und Waltershausen geheiratet hatten. Es hatte nie eine Beziehung zwischen Peter und einer der Töchter gegeben, so als wirkte die Scheidung von damals bis in unsere Zeit nach und legte sich wie ein Hindernis auf eine mögliche Annäherung. Der Unfall von Peter hatte den Stegmüllers sehr leid getan und sie boten unmittelbar danach ihre Hilfe an, man beließ es aber dabei, Peter gelegentlich vom Dorf nach Hause zu schieben, wenn man gerade selbst von dort unterwegs war, und man grüßte sich natürlich, wenn man sich begegnete. Auch Stegmüllers waren erklärte Befürworter der Ortsumgehung und die beiden Familienvorstände trafen sich schon einmal auf den anberaumten Sitzungen der Bürgerinitiative in der Sonne.
Hinter der Kirche, direkt neben der Schule wohnte die Familie Glenbacher mit ihrem Sohn Andreas, der als Sonderling galt, weil Andres kleinwüchsig war und nicht sehr gut aussah, und wenn man ihn auf der Straße traf und ihn grüßte, schaute er mit ernstem Gesicht hoch und gab Grunzlaute von sich, anschließend lief er fort. Niemand hatte eine Erklärung für das Verhalten von Andreas, es interessierte aber auch nicht sonderlich. Andreas Familie lebte zurückgezogen in einem kleinen Häuschen, dessen Garten an den Wendlerbach grenzte. Zu den Glenbachers hatte eigentlich niemand so richtig Kontakt, und das auffällige Verhalten ihres Sohnes führten manche darauf zurück, dass er als Kleinkind einmal beinahe im Wendlerbach ertrunken wäre. Er hatte unbeaufsichtigt im Garten gespielt und war seinem Ball hinterhergelaufen, der in den Bach gefallen war, wobei der Bach eine Wassertiefe von maximal fünfzig Zentimetern hatte, was für Kleinkinder aber schon zu tief war. Andreas Mutter konnte ihn gerade noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen und ihn per Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben, bevor er ertrunken wäre. Da sein Gehirn für verhältnismäßig lange Zeit mit Sauerstoff unterversorgt gewesen war, glaubte man, Andreas hätte eine bleibende Behinderung davongetragen, ganz sicher war sich da aber niemand.
„Da geht der Glen“, sagten viele, wenn Andreas durchs Dorf stromerte, so leise, dass sie Andreas nicht hören konnten. Alfons Disch glaubte, auf seine Waren in seinem Geschäft besonders aufpassen zu müssen, wenn Andreas im Laden war, denn der Glen galt als merkwürdiger Typ, dem man alles zutrauen konnte, auch einen Ladendiebstahl. Bis dahin hatte der Glen aber immer sein Eis bezahlt, das er sich gelegentlich bei Disch kaufte. Der Glen war inzwischen einundzwanzig Jahre alt und wohnte noch immer bei seinen Eltern. Eine Schule hatte er zwar besucht, seinen Abschluss aber auf dem untersten Niveau gemacht. Zu einer Berufsausbildung hatte es nicht gereicht, niemand wollte ihn beschäftigen, nicht so sehr wegen seiner schlechten Schulleistungen, sondern wegen seines merkwürdigen Allgemeinverhaltens, man hielt den Glen für unberechenbar. Manchmal war der Glen für Tage nicht zu sehen und alle rätselten, wo er sich während seiner Abwesenheit wohl aufhielt, es ging das Gerücht, er hielt sich auf dem Wolfskopf auf und betrieb dort nachts eine Geisterbeschwörung. Man lachte darüber, ganz wohl war einem bei dem Gedanken daran aber nicht. Der Glen konnte ein ganz lieber Mensch sein, wenn er gut gelaunt war, lächelte er, und man konnte sein schief gewachsenes Gebiss sehen und die Warze, die auf seiner Nase wuchs, kam dabei besonders zur Geltung. Sein Kopf saß praktisch halslos auf dem Rumpf, und wenn der Glen mit seinen für seine Körpergröße viel zu langen Armen gestikulierte, glaubte man manchmal, eine Marionette vor sich zu haben.
Er hatte kleine flinke Augen, mit denen er ausgezeichnet sehen konnte und große abstehende Ohren, die ihn nicht schöner machten, mit denen er aber hervorragend hören konnte. Direkt am Haus der Glenbachers gab es eine uralte Eisenbrücke über den Wendlerbach, die so verrostet war, dass sie einzustürzen drohte, und wenn man über die Brücke lief, übertrugen sich die Schritte auf die Eisenkonstruktion und brachten sie zum Schwingen. Der Glen machte sich ein Vergnügen daraus, Leuten, die die Brücke überquerten, hinterher zu gehen und die Schwingungen damit zu verstärken, sodass die Leute ihre Schritte aus Angst beschleunigten und beinahe über die Brücke rannten. Der Glen hatte seine helle Freude dabei und musste über die ängstlichen Leute lachen, die wiederum sprachen Flüche über den Glen aus und wünschten ihm sonst was. Früher stand der Glen unter der Brücke und schaute den Mädchen, die über sie liefen, unter den Rock. Das hatte er sich aber abgewöhnt, nachdem der Brückenbelag erneuert und durch eine geschlossene Bretterabdeckung ersetzt worden war. Auf der anderen Seite der Hauptstraße gelangte man, wenn man von der Brücke kam, auf den Weg zum Wolfskopf, der in seinem unteren Teil bis zum Heligenhäuschen noch breit war und nicht sehr steil anstieg.
Der Glen liebte es, durch das Dorf zu stromern und die Leute zu necken, man sah es ihm nach, schüttelte den Kopf über ihn und ließ ihn gewähren, solange er niemandem ernsthaften Schaden zufügte. Manchmal saß er auf dem Kirchplatz und gaffte die Passanten an, die gelegentlich erschrocken waren über seine Dreistigkeit, was den Glen nur freute. Einmal setzte sich der Pfarrer zu ihm, um mit ihm zu reden und ihn dazu zu bewegen, doch auch einmal die Kirche zu besuchen und zu seinem Schöpfer zu beten. Als der Glen aber daraufhin so laut lachen musste, dass es über den ganzen Kirchplatz schallte, ging der Pfarrer schnell in sein Pfarrhaus und versuchte, sein Treffen mit dem Glen zu vergessen. Das „Hotel Rösch“ verfügte über eine eigene Metzgerei und immer, wenn gewurstet wurde, roch es über den gesamten Kirchplatz nach den Gewürzen, die an die Wurst kamen wie zum Beispiel Majoran. Wenn die empfindliche Nase des Glen diese guten Aromen aufnahm, ging er zu Rösch hinter das Haus, wo der Zugang zur Metzgerei lag und stellte sich dorthin. Er wartete dort so lange, bis ihn jemand bemerkte und ihm ein Stück frische und noch warme Fleischwurst gab, erst danach zog er wieder ab. Die Küche bei Rösch war bodenständig und gut, die Zimmer waren einfach, aber sauber und ordentlich, und die Übernachtung in diesem Hotel kostete nicht die Welt.
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