Das Haus stand schon seit zweihundert Jahren an seinem Platz und diente ganz früher den Durchreisenden als Unterkunft, schon damals lobten viele die gute Küche, was in alten Briefen schriftlich belegt war, die Briefe lagen im Gastraum hinter Glas und konnten von jedem Gast gelesen werden. Immer nach dem Kirchgang nahmen die Männer einen Frühschoppen bei Rösch, das wurde schon seit ewigen Zeiten so gemacht, und daran würde sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Die „Sonne“ kam für den Frühschoppen nicht in Betracht, weil sie nicht wie Rösch direkt am Kirchplatz lag, man setzte sich bei schönem Wetter draußen vor das Hotel und ließ Bier kommen. Die Männer trugen feinsten Sonntagsstaat und waren herausgeputzt, die Frauen kümmerten sich in der Zeit zu Hause um den Sonntagsbraten und hofften, dass ihre Männer rechtzeitig zum Essen nach Hause kämen. Manche der Männer verpassten es, frühzeitig mit dem Biertrinken Schluss zu machen und wurden immer betrunkener, und wenn die anderen sie nicht dazu aufgefordert hätten, das Trinken einzustellen, wären sie irgendwann unter den Tisch gefallen. Man half ihnen nach Hause, wo ihnen eine Schimpfkanonade ihrer Ehefrauen sicher war. Das „Hotel Rösch“ verfügte über eine Kegelbahn, die auch ausgiebig, vor allem von der Dorfjugend, genutzt wurde. Man traf sich in der Woche für zwei, drei Stunden bei Rösch und kegelte, dabei ließ man sich Essen bringen und lobte regelmäßig den Koch.
Das Hotel war heute nicht mehr ausgelastet, der Betrieb reichte so gerade aus, um der Familie Rösch über die Runden zu helfen. Die älteste Tochter, Theodora, half im Hotel die Betten zu richten und alles sauber zu halten. Theodora war noch keine zwanzig und würde sicher aus Kregelbach wegziehen, wenn sie jemanden kennen lernte, der sie heiratete, ihr Herz hing nicht an dem elterlichen Hotel. Mitten auf dem Kirchplatz stand ein Kriegerdenkmal, das an die Gefallenen aus den beiden Weltkriegen erinnerte, niemand schenkte ihnen mehr Beachtung, am wenigsten die jungen Leute. Die ein Stück die Kirchgasse entlang gelegene „Sonne“ war auch schon alt und ein Restaurant für gehobene Ansprüche. Es kamen Gäste von außerhalb, um in der Sonne zu essen, besonders Wildgerichte, frische Forellen aus den umliegenden Gewässern und in der Saison auch frische Pilze waren die favorisierten Gerichte in der „Sonne“. Das Lokal hatte in seiner langjährigen Geschichte erst in den letzten Jahren einen radikalen Wandel erfahren, es war von einer Dorfgaststätte mit gutem Essen zu einem Genusstempel geworden. Man hatte aber die Dorfanbindung beibehalten und stellte dem Musikverein und der Bürgerinitiative für die Ortsumgehung Räumlichkeiten zur Verfügung. Überhaupt waren die Wirtsleute auf dem Teppich geblieben und trugen die Nasen nicht höher, nur weil ihr Restaurant jetzt ein Spitzenlokal geworden war. Sie waren beide Mitte dreißig, er war sowohl Mitglied im Musikverein als auch in der Bürgerinitiative, sie engagierte sich im Dorf, besuchte Alte und Hilfsbedürftige und nahm Besorgungen für sie vor.
Manchmal setzte sie sich einfach zu ihnen und redete mit ihnen über alles Mögliche, sie merkte, dass sie gut bei den Menschen ankam. Einmal im Jahr kamen alle zusammen, die wollten, um auf den Wolfskopf zu laufen und die Kapelle, die oben auf dem Gipfel stand, aufzusuchen und dort zu beten. Früher konnte man die Kapelle vom Tal aus sehen, sie war weiß und ein markanter Blickfang gewesen, heute verhinderten die inzwischen gewachsenen Bäume einen Blick auf das kleine Gotteshaus. Es fand sich immer eine Wandergruppe von fünfzehn bis zwanzig Personen ein, die sich an der Brücke über den Wendlerbach traf, die Hauptstraße überquerte und loslief. Zu der Wandergruppe gehörten regelmäßig die Wirtsleute aus der Sonne, die ihr Lokal für einen halben Tag geschlossen hielten, aber auch Herr Rösch, der Pfarrer, Rohrmosers und Stegmüllers. Glenbachers hatten noch nie teilgenommen, sie waren wohl auch schon zu alt für die Wanderung auf den Berg oder sie waren körperlich dazu nicht in der Lage. Die Wanderer trugen Rucksäcke, in denen sie eine Wegzehrung verstaut hatten, ein paar Hartwürste, gutes Brot, Bier und Wasser. Festes Schuhwerk war zwar nicht unbedingt erforderlich, aber es konnte zumindest im oberen Teil des Weges nicht schaden, jeder trug Wanderschuhe.
So lief die Gruppe an der Tankstelle und den Tennisplätzen vorbei den sanften Anstieg bis zum Heiligenhäuschen hoch. Dort blieb sie stehen und der Pfarrer sprach ein Gebet, er erflehte Gottes Segen für die Gruppe und dankte ihm für die Kraft, die er allen für den Aufstieg gegeben hatte. Unmittelbar nach dem Heiligenhäuschen begann der Wald und die Gruppe wanderte im Schatten der mächtigen Tannen, die dort standen und den typischen herzhaften Harzgeruch abgaben. Der Weg hatte sich inzwischen von einer gut befahrbaren schmalen Straße zu einem holperigen Steilanstieg gewandelt, in dessen Mitte eine Rinne vom herabstürzenden Regenwasser ausgewaschen war. Die Gruppe war bemüht, immer am Rand des Steilweges zu laufen, weil die Rinne in der Mitte viele Unebenheiten aufwies und man zu fallen drohte, wenn man stolperte. Hin und wieder jagte ein Stück Rehwild über den Weg und verschwand schleunigst im Dickicht des Waldes, das aus niedrigem Buschwerk und Farn bestand. Denn natürlich bewegte sich die Gruppe nicht sehr leise den Wolfskopf hinauf, sodass das Wild aufgeschreckt wurde und die Flucht ergriff, es waren auch viele Eichhörnchen und auch einmal eine Rotte Wildschweine mit Frischlingen zu sehen. Vögel sah man in dem dunklen dichten Tannenwald kaum, wohl aber hörte man sie, sie saßen in den Tannenkronen in der Sonne und zwitscherten ihre Lieder. Auf mehr als halber Höhe gab es eine Art Sattel und die Gruppe machte Halt, jeder setzte sich auf das weiche Moos und holte etwas zu essen und zu trinken aus dem Rucksack.
Die Wanderer waren eineinhalb Stunden bergan gestiegen und ziemlich müde von der Anstrengung, sie hatten von dort aus noch eine halbe Stunde zu klettern. Niemand sagt ein Wort, jeder kaute oder trank, und alle hörten auf die Stimmen des Waldes, die klar und deutlich zu vernehmen waren, beinahe wie in einem Kirchenschiff ertönten die Waldgeräusche. Nach einer ungefähr zwanzigminütigen Pause ging es weiter, deutlich langsamer als am Anfang, jeder schwitzte und rang nach Luft, die Luft war gut im Wald und erfrischte. Nach weiteren zwanzig Minuten steilen Anstiegs war die Kapelle in Sichtweite, sie lag friedlich auf der Gipfellichtung, still. Nachdem die Gruppe an der Kapelle angekommen war, setzte sich jeder in die Wiese vor der kleinen Kirche und schaute ins Tal oder über die Berge hinweg in die Ferne. Alle waren stolz auf sich, dass sie den Anstieg wieder einmal vollbracht hatten, und es wurde Bier geöffnet und mit Genuss getrunken. Danach betraten alle das Gotteshaus und bekreuzigten sich, jeder kniete vor dem Altar und sprach ein stilles Gebet, bevor man sich in das Kapellenbuch eintrug, man schrieb das Datum, ein, zwei kurze Sätze und seinen Namen. Dort oben war man von allem entrückt, zwischen Dorf und Gipfel lag der finstere Tannenwald wie ein hemmendes Bollwerk, das es zu überwinden galt, danach öffnete sich der Blick in die Weite und man wurde geradezu beflügelt.
Noch einmal setzte sich die Gruppe in die Wiese, die Stimmung war gelöst und der Pfarrer stimmte „Geh aus mein Herz und suche...“ an und alle sangen aus Leibeskräften und freuten sich ihres Lebens. Das Lied von Paul Gerhardt hatte im Original zwanzig Strophen, von denen aber nur drei gesungen wurden. Der Einzige, der textsicher war, war der Pfarrer, und der sang auch am lautesten. Danach ging es wieder talwärts und alle liefen frohen Mutes wieder in den Tannenwald, der sie aufnahm und nicht mehr loszulassen drohte, so dicht standen die Bäume, so bedrohlich hingen ihre dicken Äste über dem Weg, als wollten sie die Wanderer ergreifen, die sich unter ihnen hindurch bücken mussten. Der Rückweg dauerte insgesamt nur eine Stunde und als sie wieder an das Heiligenhäuschen kamen, liefen sie an ihm vorbei, überquerten die Hauptstraße und gingen über die Wendlerbachbrücke, die unter den schweren Schritten der Wanderer bedrohlich ins Schwingen geriet, ins Dorf. Sie kreuzten die Wehrgasse und liefen auf dem Kirchplatz am Denkmal vorbei geradewegs zur „Sonne“. Das Wirtsehepaar öffnete sein Lokal und wies den Koch, der gerade eintraf, an, das Essen für den Abend vorzubereiten. Anschließend zapfte die Wirtin für jeden, der wollte, ein Bier und schenkte den Frauen ein Glas Weißwein ein, der Wirt holte die Obstlerflasche und gab jedem, der wollte, ein Schnapsglas und goss es voll. Danach tranken alle auf die erfolgreiche Wanderung, die man im nächsten Jahr unbedingt wiederholen wollte.
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