Dass man missliebigen oppositionellen Frauen die Kinder wegnahm, die Mütter ermordete und die Kinder anderen zur Erziehung anvertraute, war in den Augen Albins ein dermaßen ungeheures Vergehen, dass er sich das für seine Realität nicht vorstellen konnte.
Eine solche Konstellation aus machtgierigen Militärs und unterdrücktem Volk war bei den Argin auch gar nicht möglich, weil es erstens keine Militärs gab und zweitens personengebundene Macht nicht existierte.
Macht diente ja per definitionem dazu, den eigenen Willen auch gegen den Willen anderer durchzusetzen, aber bei den Argin gab es eine solche Willensdifferenz nicht. Wegen des ethisch-moralischen Kodex wollten sie alle das Gleiche, Gute, eine Vokabel wie Macht spielte bei ihnen gar keine Rolle. Albin ging nach zweistündigem Leseaufenthalt in seinem Vorgarten ins Bett, er lag zuerst auf dem Rücken, dachte nach und schaute zur Zimmerdecke, bevor er sich auf die Seite legte und gleich einschlief.
Er schlief einige Stunden lang tief und fest und als er danach wieder runtergegangen war, aß er einen Gnoogle und trank einen Saft dazu, an diesem Tag würde in der Verteilstelle sein Kaffee ankommen und er könnte seinen gewohnten Frühstückskaffee trinken, darauf freute er sich schon seit Langem. Plötzlich ging sein Handy und Pelbin rief an:
„Deine Sachen sind gekommen, ich wollte fragen, ob Du sie holen kommst oder ob ich sie Dir bringen lassen soll“, und Albin antwortete, dass er im Verlauf der nächsten Stunde vorbeikäme und seine Sachen abholte. Es freute ihn, dass das Verteilsystem bei den Argin so gut funktionierte und er las ein wenig auf seinem E-Book, als Tola kam und ihn begrüßte. Albin erzählte ihr:
„Ich muss gleich zur Verteilstelle, um meine Sachen abzuholen, ich muss Pelbin auch Bescheid sagen, dass sie in den nächsten fünf Tagen nicht mit mir rechnen kann.“ Wenn Tola wollte, könnte sie ja mit ihm kommen, aber Tola sagte:
„Ich warte lieber im Vorgarten auf Deine Rückkehr.“ Albin lief los und erreichte nach drei Minuten die Verteilstelle, er zeigte der Mitarbeiterin seinen Bestellschein und bat sie, seine Sachen zu holen. In der Zwischenzeit ging er zu Pelbin und bedankte sich bei ihr für ihren Anruf, anschließend teilte er ihr mit, dass er vom nächsten Tag an gerechnet vier Tage lang wandern würde, und er deshalb nicht an der Verteilstelle erscheinen könnte. Pelbin fragte ihn:
„Wohin geht denn die Reise?“ und Albin antwortete:
„Ich fliege mit Tola, Nerma und Tabor nach Enare an den Sulara und wir wollen durch die Weinfelder und -dörfer wandern.“ Da gab Pelbin Albin einen Tipp:
„Wenn Ihr nach Garbek kommt, müsst Ihr unbedingt in das Weinlokal direkt am Fluss gehen, dort sitzt man sehr schön und es gibt dort den besten Wein, den man sich vorstellen kann.“ Sie schrieb Albin den Namen des Weinlokals auf, das wie nicht anders zu erwarten „Zur Traube“ hieß. Albin bedankte sich bei Pelbin und steckte ihren Zettel in die Tasche, er gab ihr zum Abschied die Hand und lief wieder nach vorn zur Mitarbeiterin, die seinen Kaffee, seine Badehose, seinen Rucksack und seine Wanderschuhe hingelegt hatte. Albin begutachtete sie Sachen mit einem ersten prüfenden Blick und war zufrieden, den Kaffee gab es gemahlen in Dosen wie zu Hause auch. Er öffnete den Rucksack und steckte alle Sachen hinein, verstellte die Trageriemen auf seine Körpermaße und setzte den Rucksack auf. Er bat die Mitarbeiterin:
„Bitte kontrolliere doch einmal den Sitz des Rucksacks!“ und sie sagte:
„Er sitzt gut, Du kannst aber ja die Riemen auch noch verstellen!“ Daraufhin wünschte Albin noch einen schönen Tag und lief wieder nach Hause. Sein Schritt war mit dem Rucksack auf dem Rücken ein anderer als normal, er verfiel in einen Wanderschritt und musste sich mäßigen, nicht zu schnell zu laufen. Zwei Waschbären nahmen auf der Straße vor ihm Reißaus, als er so ungestüm dahergelaufen kam und Albin rief ihnen besänftigende Worte hinterher.
Zu Hause bei ihm angekommen, zog er den Rucksack wieder ab und stellte ihn draußen auf den Tisch, Tola fragte ihn, ob er alles bekommen hätte und Albin packte die Sachen aus, die er mitgebracht hatte. Er sagte:
„Ich muss eine Anpassprobe bei der Badehose und vor allem bei den Wanderschuhen vornehmen, die Schuhe will ich einige Stunden an meinen Füßen behalten, um mich an sie zu gewöhnen und zu überprüfen, ob ich in ihnen Blasen bekomme.“ Aber als Erstes wollte er sich einen Kaffee kochen, und er ging ins Haus und stellte das Heißwassergerät an. Er nahm die Kaffeedose und gab in eine Porzellankanne ein paar Teelöffel von dem Kaffeepulver. Nachdem das Wasser gekocht hatte, übergoss er das Pulver damit und achtete darauf, dass er nicht zu viel Wasser nahm, um den Kaffee nicht zu dünn werden zu lassen. Anschließend ließ er das Kaffeepulver quellen und in dem heißen Wasser ziehen, er wartete, bis es ganz auf den Boden der Kanne gesunken war, erst danach goss er sich vorsichtig eine Tasse ein, immer darauf achtend, dass er keinen Kaffeesatz in seine Tasse schüttete. Er musste sagen, dass die Kaffeezubereitung bis zu diesem Zeitpunkt ausgezeichnet geklappt hatte und führte seine Tasse an den Mund, um zu probieren.
Der Kaffee schmeckte ihm, musste Albin gestehen, er schmeckte eine Nuance anders als der Filterkaffee, den er bis dahin immer gekocht hatte, aber er schmeckte, er hatte ein volles Aroma. Als er Tola fragte, ob sie auch eine Tasse trinken wollte, schüttelte sie sich und lehnte dankend ab:
„Kaffee ist mir zu bitter“, sagte sie. Albin war zufrieden, dass er es geschafft hatte, auf eine sehr archaische Weise Kaffee zu bereiten und nahm noch einen Schluck. Danach nahm er seine Badehose und stand auf, er zog seine Unterhose unter der Toga aus und probierte die Badehose an, sie passte wie angegossen, er zog die Badehose wieder aus und seine Unterhose wieder an. Anschließend nahm er seine Wanderschuhe zur Hand und ließ seine Augen über die Nähte wandern. Die Schuhe waren aus leichtem Material und keine Volllederschuhe, nur die Fußspitzen, die Knöchel und die Fersen waren verstärkt, die Schuhe hatten die üblichen Profilsohlen von Wanderschuhen, wie sie beinahe alle Wanderschuhe auch hatten. Er öffnete an beiden Schuhen die Schnürsenkel und schlüpfte mit seinen Füßen hinein. Bevor er die Schnürsenkel wieder zuband, stellte er sich und überprüfte die Schuhlänge, sie war genau richtig und er stieß mit seinen Zehen nicht an. Danach setzte er sich wieder und band die Schnürsenkel zunächst locker zu. Er lief ein paar Schritte und fühlte sich auf Anhieb wohl in seinen neuen Wanderschuhen, er würde die Schnürsenkel später stramm ziehen. Tola sagte:
„Du siehst gut aus in Deinen neuen Wanderschuhen, wie ein Bergsteiger, und die Badehose hat auch gut ausgesehen, obwohl Du die ja schnell wieder ausgezogen hast.“
Albin ging absichtlich in seinem Garten herum, um die Schuhe einzulaufen, sie passten so gut, dass er sich nicht vorstellen konnte, jemals eine Blase in den Schuhen zu bekommen. Er hatte während des Herumlaufens seine Kaffeetasse in der Hand und nahm ab und zu einen Schluck im Gehen, regelmäßig schüttete er sich Kaffee nach, bis die Kanne leer und nur noch Kaffeesatz in ihr war. Albin schlug Tola vor, mit ihm einen Gang durch das Dorf zu machen:
„Wir können doch einmal bis zum Flughafen und wieder zurück laufen und wenn ich danach immer noch keine Blasen in meinen Schuhen habe, ziehe ich sie aus und stelle sie für den nächsten Tag bereit.“ Tola war einverstanden, wenngleich bis zum Flugplatz ein ganzes Stück zu laufen war, aber sie war das Wandern ja aus alter Erfahrung gewohnt. Albin füllte sich eine Flasche mit Schnaps ab und nahm sie mit, damit Tola und er unterwegs zu trinken hätten, aber gemessen an dem, was ihnen am nächsten Tag bevorstünde, war der Gang zum Flughafen ein Klacks.
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