„Von mir aus – aber nicht wieder halb nackt, sonst kriegt Herr Holzner einen Anfall. Das muss ja nicht sein...“
Sie gelobten feierlich, nur schickliche Poster aufzuhängen. Holzner würde sicher wieder Mutter Teresa oder etwas Ähnliches vorschlagen, aber das war für durchschnittliche Neuntklässler einfach zu weit weg, das würde er nur nie verstehen.
Noch eine Stunde Grundkurs Deutsch, gemütliche Lektüre von Homo faber – aus diesem Roman konnte man immer etwas machen. Walter Fabers Kampf mit seinen Trieben war den Kollegiaten allerdings offenkundig etwas peinlich; sie arbeiteten gut mit, solange ich von ihnen nicht verlangte, die Tatsache beim Namen zu nennen, dass die kurzen Pausen im Text für Sex zwischen Walter und Ivy standen. So pubertär waren sie doch gar nicht mehr? Die mussten doch langsam selbst ein Privatleben haben? Im Gegensatz zu mir... Wie kam ich jetzt mitten im Unterricht darauf?
Endlich ein Uhr, fertig!
Im Lehrerzimmer kontrollierte ich mein Fach – zwei Prospekte, wieder ein Zettelchen von Brandes, der eine Sammelbestellung für einen fetten Quellenband zur Zeitgeschichte herumgehen ließ. Ich blätterte kurz in dem Band, durchaus brauchbar, und trug mich in die Liste ein, als erste – aber für die digitale Version, war ich denn blöd? Wollten die anderen ihn nicht? Er sah doch sehr nützlich aus!
Ich unterhielt mich noch kurz mit Holger, der den Nachmittag hier verbringen musste, und Bettina, die heute zwei Schulaufgaben geschrieben hatte und damit schon wusste, wie ihr Nachmittag aussehen würde. Da hatte ich es noch relativ gut.
Ich kaufte noch ein bisschen ein und korrigierte dann das Geschichtsex der 9 a. Erstaunliche historische Erkenntnisse traten da zutage... An der Inflation waren die Amerikaner schuld? 1923 wurde das Geld ganz abgeschafft? Seufzend unterstrich ich diese Peinlichkeiten rot. Immerhin, als ich fertig war, hatte sich ein Durchschnitt von 2,73 ergeben, nicht zu schlecht trotz einzelner Aussetzer. Die 9 a war wirklich eine gute Klasse.
Morgen hatte ich nur drei Stunden, die neue Klasse war ja erst nächste Woche fällig. Das war alles schnell vorbereitet, und danach sah ich mich tatendurstig in meiner Wohnung um. Das Arbeitszimmer war einwandfrei, das war auch das einzige, was ich von Anfang an gründlich eingerichtet hatte. Gut, die Küche war auch in Ordnung, aber im Wohnzimmer und im Schlafzimmer standen noch die vergammelten Möbel aus dem Einzimmerappartement, das ich bis vor einem halben Jahr bewohnt hatte, und ich konnte diese wackligen Möbelmarktscheusäler allmählich nicht mehr sehen.
Wie gut war ich eigentlich bei Kasse? Ich klickte mein Konto an. Was? Ich hatte fast 30.000 Mark auf dem Girokonto? Welche Sünde, da nützte es mir doch fast nichts! Im Depot lagen immerhin Fonds und Aktien für etwa 25.000 Euro. In viereinhalb Jahren müsste ich der Bank rund hunderttausend Mark – oder dann wohl eher 51.000 Euro – bezahlen, glücklicherweise hatte ich einiges Eigenkapital gehabt, als ich mich für diese Wohnung entschieden hatte.
Dann war ich ja gar nicht so arm? Ich kaufte mir online für fast 20.000 Mark Fondsanteile – hauptsächlich Rentenfonds, der hysterischen Börse traute ich nicht mehr so recht – und beschloss, dass ich etwa 8.000 Mark auf den Kopf hauen dürfte.
Das hatte ich in meinem Leben noch nicht gemacht, Geld auf den Kopf gehauen… Ich klickte mich wieder aus dem Netz und ging ins Schlafzimmer, wo ich mich aufs Bett warf, die Arme hinter dem Kopf verschränkte und an die Decke starrte. Wann hatte ich jemals das Leben genossen? Eigentlich nie, überlegte ich. Woran lag das wohl? Schafften es Silke und Meike eher, ihr Leben zu genießen? Wir waren doch alle drei gleich erzogen worden?
Meine Eltern hatten spätestens mit Meikes Geburt in der Panik gelebt, es könnte ihnen nicht gelingen, drei Töchter großzuziehen, sie könnten daran Bankrott gehen, spätestens, wenn sie die Hochzeiten finanzieren müssten. Immer hatten sie uns gedrängt, schneller zu lernen, schneller zu studieren, als liefe irgendwo eine Uhr laut tickend ab. Sollte sie verstummen, mein Vater also in Pension gehen, bräche das nackte Elend herein.
Bei mir hatte es geklappt; sie hatten mich gegen den Rat der Lehrer genötigt, die zehnte Klasse zu überspringen, um ein Jahr zu sparen. Mir gefiel es nicht in der neuen Klasse, und ich war ohnehin früh eingeschult worden. Das Ergebnis bestand dann darin, dass ich die einzige Schülerin war, die bis zum Abitur ihre Entschuldigungen von den Eltern unterschreiben lassen musste. Abitur, aber minderjährig – ich hatte das als extrem peinlich empfunden.
Silke, die zwei Jahre jünger war als ich, hatte sich das angesehen und dann ihren Notendurchschnitt sorgfältig auf einer mäßigen Drei gehalten, so dass ein Überspringen gar nicht in Frage kam. Meike dagegen, die für Widerstand weniger geeignet war, hatte ebenfalls mit knapp achtzehn Abitur gemacht.
Fürsorglich hatten meine Eltern mir dann einen lukrativen Ferienjob besorgt und mich dazu bewogen, nicht etwa ein Jahr gemütlich herumzustudieren, sondern sofort zielstrebig Scheine zu machen. Als ich für immerhin drei Fächer dann doch zehn Semester bis zum Staatsexamen brauchte, waren sie ehrlich enttäuscht von mir. Immerhin hatte ich immer neben dem Studium gejobbt und mich so fast ganz selbst finanziert, sogar etwas auf die hohe Kante gelegt. Dass ich aber seit dem ersten Semester bei jedem Sonntagsbesuch gefragt wurde „Und? Wann bist du mit dem Studium fertig?“, hatte mich schon damals tierisch genervt. Heute noch viel mehr, denn nun wusste ich, wie andere studiert hatten – mit lustigen Nebenjobs, Festen, langen angetrunkenen Nächten, einem aufreibenden Privatleben und intensivem Umsehen in ganz anderen Fächern. Ich hatte dagegen die Liste aller für das Examen nötigen Scheine und Praktika pflichtbewusst abgearbeitet und nicht rechts und nicht links geschaut. Wie langweilig! Gut, das Erbe meiner Großeltern war mir auch zupass gekommen. Ich hatte es gut angelegt – mein Vater legte großen Wert darauf, dass wir uns mit Investitionsmöglichkeiten auskannten, meine Zockerei im letzten Jahr hätte er allerdings nicht gebilligt, wenn er davon gewusst hätte – und so diese Wohnung fast ganz finanzieren können.
Eigentlich konnte ich also ganz zufrieden sein – und hatten meine Eltern nicht Recht gehabt?
Aber wann hatte ich wirklich gelebt? In der Schulzeit nicht, immer hieß es Wenn du dein Abitur hast, dann ... Im Studium? Nach dem Examen, dann... Gut, ein bisschen gelebt hatte ich schon, ich dachte kurz an Peter und Neil und diese chaotische Reise nach Griechenland. Nach dem Examen? Bring erst einmal deine Referendarzeit hinter dich... Das hatte ich getan und sofort eine Planstelle erhalten, vor fast fünf Jahren. Noch können sie dich wieder entlassen, warte auf die Verbeamtung auf Lebenszeit . Auch das hatte ich in der Tasche. Sollte ich nun mit dem Leben warten, bis ich die nächste Beförderung hinter mir hatte? Oder bis nach der Pensionierung? Was dachten sich meine Eltern eigentlich bei diesen Mahnungen? Und mittlerweile war es auch meine eigene Stimme, die mich vorwärts trieb. Perfekt konditioniert.
Nur – vorwärts wohin? Ich war am Ziel, vor mir dehnten sich noch fünfunddreißig Jahre Schulalltag. Was sollte mich jetzt treiben? Plötzlich fühlte ich eine unbestimmte Leere in mir, aber bevor ich mich im Selbstmitleid suhlen oder Pläne schmieden konnte, wie ich das Geld ausgeben sollte, klingelte das Telefon.
„Hallo, ich bin´s, Meike.“
„Meike! Wie geht´s?“
„Beschissen. Die Kinder kreischen rum, Robbi ist nicht da, und ich bin total pleite. Hier schaut´s aus...! Kannst du nicht mal vorbeikommen?“
Ich seufzte. Meike wollte mich im Allgemeinen nur sehen, damit ich ihr im Haushalt half, ihre Kinder beruhigte und ihr Ratschläge erteilte, an die sich ohnehin nie hielt. Darauf hatte ich gar keine Lust.
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