Ich schlüpfte in ein Nachthemd, schminkte mich ab und zog die Haarnadeln aus meinem Knoten. Diese Haare waren langsam auch lästig. Ich dröselte den Zopf auf und begann zu bürsten. Sollte ich die Mähne mal abschneiden? Ich wusste nur nicht, wie es dann wohl aussah, meine schwarzen Haare waren leicht gewellt und ich wollte nicht herumlaufen wie mit einer erschlafften Dauerwelle. Heute war ich aber zu müde, um mir noch groß Gedanken zu machen, ich hatte ja auch Zeit – die nächsten fünfunddreißig Jahre lagen sehr übersichtlich vor mir. Hatte ich mir das heute nicht schon einmal gedacht?
Am nächsten Morgen war ich immer noch gereizt, warum, war mir selbst nicht ganz klar. Aus Trotz zog ich Jeans und einen Pullover an, etwas, was ich an dieser Schule noch nie getan hatte, dazu warme Stiefel, denn es hatte schon wieder geschneit und die Straßen waren voller Matsch. Meinen Knoten steckte ich ziemlich nachlässig auf, im Ausgleich dazu schminkte ich mich etwas kräftiger, vielleicht konnte ich Holzner damit ärgern?
Schon vor acht warf ich Brandes einen Zettel ins Fach Meierhöfer/Zorn haben gar nicht mitgeschrieben, vgl. Umschlag und Siebel Kann ich dann wenigstens die Einzelnoten der 10 b haben? . Wenn ich so weitermachte, würde ich mit gewissen Leuten nur noch schriftlich verkehren. Aber es gab wirklich Kollegen, bei denen man sich von Anfang an auf den Tag freute, an dem sie endlich pensioniert wurden!
Dann kopierte ich meinen Bedarf für heute; aus dem Nebenraum hinter dem Kopierer hörte ich nach einiger Zeit Stimmen, die auf einen Krach schließen ließen. Verstehen konnte ich nichts, außerdem wäre es peinlich, beim Lauschen ertappt zu werden, also machte ich, dass ich mit meinen Kopien fertig wurde, und verzog mich an meinen Platz. Noch eine Viertelstunde – sollte ich an diesem Ex weiter korrigieren? Ach, das lag ja zu Hause auf dem Schreibtisch... Gut, dann eben erst einmal Frühstück. Und was sagte der Vertretungsplan?
Ich studierte ihn noch, als Brandes aus dem Nebenraum geschossen kam. Mit steinernem Gesicht nickte ich ihm einen gemessenen Gruß zu und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er den Zettel aus seinem Fach holte. Grinste er etwa? Frechheit!
Ich packte meine Tasche um und wollte mich gerade in die 6 d aufmachen, als er auf mich zukam.
„Was heißt vgl. Umschlag ?“
Er hielt ihn mir hin. Mist! Ich hatte es doch nicht draufgeschrieben. Ich riss ihm den Umschlag aus der Hand, schrieb die fehlenden Arbeiten darauf und gab ihn zurück. „Da steht´s doch! Außerdem hätte man es auch der Notenliste entnehmen können!“
Er grinste spöttisch. „Schon – aber es wäre doch nett, wenn Sie die Arbeiten etwas kundenfreundlicher aufbereiten.“
„Ich werde mich bemühen“, entgegnete ich spitz. „Und jetzt muss ich zum Unterricht!“
Auf dem langen Weg ins Erdgeschoss des Alten Flügels (erbaut 1897) überlegte ich, was mich an Brandes eigentlich so ärgerte. Dass er immer Recht hatte? Dass er in dem halben Jahr, seitdem er uns vor die Nase gesetzt worden war, so viel geändert hatte? Dass er uns alle offenbar nicht ernst nahm? Wenigstens troff ihm die Ironie aus allen Knopflöchern, Und so schön war er auch nicht, ziemlich grau schon und irgendwie dürr – fünfzig war der bestimmt! Und diese lange Nase...
Andererseits – an dieser Schule gab es überhaupt keine schönen Männer. Holzner hätte gar nicht übel ausgesehen, aber wenn man den miesen Heuchler kannte... Die Damen gaben optisch einfach mehr her. Egal!
Vor der Tür der 6 d war ein wildes Fußballspiel im Gange. Ich schnappte mir den Tennisball, der mir sehr praktisch entgegensprang, und steckte ihn ein. Wildes Protestgeheul. „Kriegen wir den nachher wieder?“
„Am Ende des Schuljahres. Ihr wisst genau, dass ihr im Schulhaus nicht Fußball spielen dürft.“
„Was machen Sie jetzt mit dem?“, wollte Fabian wissen.
„Ich lege ihn zu den anderen sieben, die ich euch schon abgeknöpft habe. Und jetzt rein mit euch, wir haben was zu tun!“
Sarah blieb entsetzt stehen. „Schreiben wir ein Ex??“
„Nein, nicht schon wieder. Marsch auf die Plätze!“
Nach einigen Minuten hatten alle ihren Kram ausgepackt, ihr Essen wieder verschwinden lassen und sich beruhigt, so dass wir uns mit dem Leben der Kinder in Athen und Sparta befassen konnten. Die Sage vom Fuchs, der dem spartanischen Jungen die Eingeweide zerfraß, erschreckte die Kleinen gebührend, animierte sie aber auch dazu, von allen Horrorfilmen zu erzählen, die sie jemals gesehen hatten. Mühsam brachte ich sie wieder zum Thema zurück.
Die achte Klasse, einen Stock höher, wurde für die recht fehlerhaften Übungsaufsätze gerüffelt.
„In welchem Tempus schreibt man eine Textzusammenfassung, Anja?“
„Im Präsens, warum?“ Sie war ehrlich erstaunt.
„Warum tust du´s dann nicht? Hier, schau mal!“
Sie warf einen Blick in ihr Heft. „Oops!“
„Ich zieh euch in der Schulaufgabe mindestens eine Note ab, wenn ihr nicht endlich daran denkt! Und liefert bitte nicht so schäbige Basissätze ab, man muss schon erkennen, ob ihr die Kernaussage erfasst habt.“
Finsterer Blick meinerseits; die Klasse starrte ebenso finster zurück, heiterte sich aber sichtbar auf, als ich ein Blatt mit Stilblüten austeilte, Von der Muse geküsst? Das liebten sie sehr, und jeder bekannte sich freudig zu missverständlichen Äußerungen, rätselhaftem Satzbau und unfreiwilliger Komik. Hoffentlich lernten sie auch etwas daraus, manchmal war ich mir da nicht so sicher... Die jedes Mal fälligen Übungen zu das/dass und Groß- und Kleinschreibung durften heute auch nicht fehlen, wenn sie auch wenig Wirkung zu haben schienen.
Nun in den neuen Trakt, in dem die ungeraden Klassen untergebracht waren, und dort wieder in den dritten Stock! In dieser Schule blieb man wirklich fit. Meine 11 c – hier ging es heute friedlich zu, wir erarbeiteten die Unterschiede zwischen Parabel und Gleichnis und übten uns in Selbstbeherrschung:
„Du wirst doch wohl noch bis zur Pause warten können?“
„Ich hab aber so Hunger!“ Erbarmungswürdiger Blick.
„Nix! Du wartest!“
Natürlich warteten sie nicht, aber sie waren wenigstens diskret – das hatten wir früher auch so gemacht. Ich konnte nur das Ungenierte nicht leiden, das manche Schüler an den Tag legten. Endlich Pause! Ja, von wegen... heute hatte ich Pausenaufsicht auf dem Hof. Ich schritt mit betont grimmiger Miene auf und ab, um das Schneeballwerfen zu unterbinden, wurde dann aber doch von einigen Mädchen aus meiner Neunten abgelenkt, die nach ihrem Geschichtsex fragten.
„Hab ich noch nicht angeschaut. Wir haben doch erst morgen wieder Geschichte!“
„Ooch...“ Sie trollten sich und gaben den Blick frei auf Freund Fabian aus der 6 d, der gerade einen prachtvollen Wurf landete und wie erstarrt stehen blieb, als er bemerkte, wer ihm da zugesehen hatte. Ich winkte ihn zu mir.
„Tja, nun kann ich wohl nicht anders, nicht?“ Er nickte kleinlaut.
„Ist das dein erster Verweis?“
„Nö... der dritte...“
Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. „Fleißig! Wie wär´s, wenn du mal vorher an dein Sündenregister denkst?“
Er gelobte Besserung – aber langfristiges Denken war von einem Sechstklässler noch ein bisschen viel verlangt. Nun, um den Verweis kam er nicht herum. Immerhin hatte die Szene dafür gesorgt, dass in dieser Pause niemand mehr einen Schneeball formte.
Beim ersten Läuten trieb ich zusammen mit Holger alle wieder ins Schulhaus zurück und eilte dann in den zweiten Stock zur 9 a. Zwei Stunden Italienisch... gut, dass es in Ragazzi so lustige Übungen gab! Außerdem mussten sich einige über Holzner beschweren und darüber debattieren, welche Poster sie an der Rückwand aufhängen wollten. Ansichten von Italien wurden glatt von *NSYNC und Britney Spears geschlagen. Wenn schon, ich hatte früher die Starschnitte aus der Bravo an die Wand geklebt.
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