„Mein Gott, die üben doch noch!“, entgegnete ich. „In dem Alter habe ich mich auch so grausig ausstaffiert, das vergeht von selbst wieder.“
Er warf mir quer durch den Raum einen hässlichen Blick zu. „Dass Sie keinen Blick für das aufreizende Verhalten dieser Mädchen haben, wundert mich nicht!“, blaffte er dann. Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und die Chefin runzelte die Stirn. Die Antwort war ja reichlich mehrdeutig, aber wohl wenig treffend. „Aufreizend? Ich finde die Mädels eher erheiternd, aber natürlich, wenn es auf Sie anders wirkt...“
Brandes neben ihm biss sich auf die Unterlippe, Bettina kicherte und fragte, ob dieser Punkt ins Protokoll aufgenommen werden sollte. Frau Dr. Werner winkte ärgerlich ab und bat uns beide, mit der albernen Debatte aufzuhören. Solange die Mädchen kein Ärgernis erregten, könnten sie doch herumlaufen, wie sie wollten.
Holzner knurrte und ich unterdrückte taktvoll ein Grinsen. Dieser widerliche Heuchler! Die anderen Religionslehrer waren doch auch nicht so? Abwechselnd machte er zweideutige Bemerkungen und benahm sich dann wieder wie der letzte Puritaner. Er tat so, als sei er überall von Obszönitäten umzingelt. Seine beiden Töchter gingen auch hier zur Schule und machten einen recht blassen und gedrückten Eindruck. Eigentlich nette Mädchen - aber dieser Vater! Ein Frauenfeind war er obendrein, aber das passte ja ganz gut dazu, wenn man es recht bedachte.
Ich wandte mich meinen angeschwollenen Mappen zu. Zwei Extemporalien, eines in Geschichte, eines in Deutsch, waren komplett und konnten abgelegt werden. Ich sortierte sie unauffällig alphabetisch, füllte das Umschlagformular aus und legte je eine Notenliste und einen Erwartungshorizont dazu. Nach der Sitzung würde sie beim Fachbetreuer bzw. im Archiv landen.
Brandes würde sich freuen, wenn er den Packen nachher in seinem Fach fand – das geschah ihm recht, was war er auch immer so zickig! Ich betrachtete ihn unauffällig. Er saß steif da und hörte anscheinend wirklich zu, jedenfalls schwätzte er nicht mit Holzner. Aber gut, wer wollte mit dem schon reden?
Brandes war erst seit diesem Schuljahr bei uns und hatte sich schon gründlich unbeliebt gemacht, einigen Kollegen offen mitgeteilt, dass ihr fachliches Niveau zu niedrig war, Klausuren und Kurzarbeiten kritisiert (mal waren sie zu einfach, mal zu schwierig) und sich überhaupt wie der sprichwörtliche neue Besen aufgeführt. Logisch, dass die meisten Geschichtslehrer mauerten! Auch ich ging ihm lieber aus dem Weg, um nicht unfreiwillig weiter gebildet zu werden. Mittlerweile war es kurz vor vier und immer noch kein Ende abzusehen. Bettina schaute grimmig – sie hatte wohl auf 15.50 als Ende gewettet und soeben verloren. Missmutig schrieb sie mit, was diverse Kollegen von Fortbildungen zu berichten hatten, danach, welche neuen Erlasse aus dem Kulturministerium uns das Leben hinfort versüßen wurden.
Erst bei den Abiturterminen hörte ich wieder zu und schrieb das Wichtigste mit. In meinem Grundkurs wollten nur zwei Geschichte als drittes Abiturfach wählen – ich hatte auch energisch abgeraten -, aber sieben hatten es als Colloquiumsfach gewählt. Nun, jetzt wusste ich wenigstens, welche Wochen dafür draufgehen würden.
Projekte und Wettbewerbe waren der nächste Punkt; ich hörte mit halben Ohr zu und bereitete das neue Ex zur Korrektur vor: Notenliste, Entwurf eines Erwartungshorizonts, Punkteschritte, alphabetisches Sortieren... Halb fünf... Was lag denn jetzt noch an? Ich versuchte auf die Distanz die ausgehängte Tagesordnung zu entziffern, aber sie war zu weit weg...
Obwohl – wenn wir schon bei der Standardpredigt waren, konnte es nicht mehr ewig dauern! Die Chefin wies wieder darauf hin, dass wir die Schüler energischer dazu anhalten müssten, ihre Klassenzimmer sauber zu halten und dass das Schneeballwerfen auf dem Schulgelände verboten sei. Jaja...
Zehn vor fünf: „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Nachmittag!“
Sie erhob sich und sammelte ihre Unterlagen ein. Toll, von dem Nachmittag war auch nichts mehr übrig, und weder das Ex noch die Übungsaufsätze waren fertig. Das würde noch ein langer Abend, dachte ich mir, als ich das erledigte Geschichtsex Brandes ins Fach stopfte und die Zeugnisse einem der Direktoratsmitarbeiter überreichte. Wenigstens das war erledigt!
In meinem Fach lagen zwei zusammengefaltete Zettel, die ich unbesehen einsteckte.
Bettina brauchte dringend eine Zigarette, und ich begleitete sie. Normalerweise rauchte ich nicht, aber nach einem solchen Tag... „Was machst du heute Abend?“, fragte sie mich und gab mir Feuer.
„Rate mal – Ex und Übungsaufsätze und die Stunden für morgen!“, grummelte ich nach einem tiefen Zug.
„Schlechtes Timing “, kritisierte sie mich. „An einem solchen Tag lässt man doch nichts schreiben!“
„Nächste Woche ist Schulaufgabe, ich muss diese dämlichen Übungsaufsätze schreiben, das ist Vorschrift. Gut, das Ex war eine Schnapsidee, aber jetzt hab ich´s schon in der Tasche. Mensch, und Siebel, der alte Sack – will mir nicht sagen, was er mit dieser Zehnten bis jetzt gemacht hat! Aber dem laufe ich nicht nach!“
„Ist doch wieder typisch“, fand Bettina, „und Holzner steht ja wohl kurz vor dem religiösen Wahn, was? Er lechzt nach einer Hexenverbrennung.“
„Kannst du laut sagen“, murrte ich, „aber ich gehe jetzt nach Hause, mir reicht´s für heute! Was machst du noch?“
„Emma abholen und dann fahre ich auch heim.“ Emma war Bettinas achtjährige Tochter, die sie praktisch alleine großzog, weil ihr Mann sich um gar nichts kümmerte und auch selten da war.
„Na, dann bis morgen... Ciao!“
Ich stopfte meinen ganzen Kram in die Tasche, die nur mit Mühe zuging, wickelte mich irgendwie in meinen Wintermantel und verzog mich nach Hause. Wenigstens wohnte ich nur zwanzig Minuten von der Schule entfernt – zu Fuß, das war sehr praktisch.
Auf meine Wohnung freute ich mich heute auch nicht. Sie war schön und gut geschnitten, das ja, und sie gehörte mir, wenigstens fast, aber nun wohnte ich schon seit Oktober dort und war immer noch nicht fertig eingerichtet. Und die Nachbarn kannte ich auch kaum, nur Susanne neben mir und Marianne über mir. Oben wohnte noch ein Mann, unter mir auch und links im Erdgeschoss eine ziemlich aufgetakelte Dame in mittleren Jahren, die aber nie da zu sein schien.
Zu essen gab es auch nichts Gescheites. Ich kochte mir ein Süppchen und schichtete dann missmutig den Inhalt meiner schweren Schultasche auf den Schreibtisch. Nun musste ich wohl an die Arbeit gehen. Zuerst die Übungsaufsätze, die wollte ich morgen wieder zurückgeben. Gegen zehn hatte ich sie alle fertig und aus häufiger vorkommenden Fehlern ein Übungsblatt geschnitzt. Immerhin, schon eine der sechs Stunden von morgen war vorbereitet! Hastig suchte ich mir etwas für die anderen zusammen und bastelte eine Wortschatzübung für die 9 a in Italienisch. Dann räumte ich meine Tasche ein – das Ex konnte ich auch morgen machen. Dabei fand ich die beiden Zettel und entfaltete sie neugierig. Der eine war nur die Mitteilung, dass die Matheschulaufgabe in der 11 c verschoben werden musste. Egal, an dem Tag hatte ich dort ohnehin nichts schreiben lassen wollen. Der andere war eine Botschaft von Brandes – ob es mir etwas ausmachen würde, beim nächsten Mal die Arbeiten vollzählig abzugeben? Bei der 11 c fehlten die Arbeiten von Meierhöfer und Zorn.... Wütend sah ich in meinen Notenlisten nach – die beiden hatten ja gar nicht mitgeschrieben, und das hatte ich bestimmt auf dem Umschlag vermerkt. Blöder Erbsenzähler!
Jetzt reichte es aber wirklich. Und aus diesem dämlichen Kostüm musste ich auch raus. Ich hängte es sorgfältig auf. Warum trug ich immer diese Kostüme? Nur, weil unsere Seminarlehrer uns das nahe gelegt hatten? Morgen nicht!
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