»Herr Wagner!«, rief Berendtsen dem Boten hinterher. »Hat es geregnet, als sie Frau Barami belieferten?«
»Es fing gerade an.«
»Das ist tatsächlich nötig«, bestätigte der Apotheker mit Blick auf die Anordnung und geleitete den Kommissar an den zentralen Arbeitsplatz, an dem unter anderem die Tüten zusammengestellt und kontrolliert wurden. Er filterte aus den Daten die fragliche Person aus. Der Rechner listete neben den Teilen, die auch in der Tüte waren, noch ein weiteres Medikament auf, TargoVital.
»Was ist das für ein Arzneimittel?«, erkundigte sich Berendtsen. »Vitamine?«
»Vitamine sind auch dabei, aber der Hauptwirkstoff ist hochdosiertes CycloDixan, ein Mittel, das Leuten verordnet wird, die tagsüber aus vielerlei Gründen nicht die volle Leistung bringen, weil sie vielleicht nachts nicht schlafen können, psychisch angeschlagen oder übermäßig traurig sind. Natürlich wird es sehr häufig – ich glaube auch in diesem Fall – als leistungssteigernde Droge verwandt. Das bleibt nicht aus.«
»Kennen Sie das Mittel Psilobal?«
»Ich habe im Studium davon gehört und gelesen. Es handelt sich um Kautabletten, die einen Trockenextrakt aus einem indischen Pilz enthalten. Dem werden wahre Wunder zugeschrieben, was die Potenz angeht. Es soll in weniger als fünfzehn Minuten eine Erektion auslösen, die ihresgleichen sucht.«
Berendtsen schmunzelte in ungläubig an.
»Es stammt aus Indien oder Pakistan, glaube ich, und wird im Fernen Osten vertrieben. Hier in Europa ist es nicht zugelassen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Wirkung so einsetzt, wie es versprochen wird. Wie kommen Sie darauf.«
»Wir haben einige davon in den Schubladen der Toten gefunden. Einzeln eingesiegelt.«
»Ich habe davon gehört«, fiel dem Apotheker ein. Einmal wurde ich von einem Kunden danach gefragt. Er hat mir nicht verraten, wie er an die Pillen gekommen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendein Land gibt, in dem die Tabletten einzeln eingesiegelt in den Handel kommen.«
»Hätten Sie vielleicht eine Idee? Wie schmuggelt man Pillen aus Indien nach Deutschland? Ich weiß … Rauschgift kommt aus Kolumbien nach hier. Schmuggler kennen ihre Pfade.«
»Es gab hier vor Jahren eine Bande, die schmuggelte Captagon ein. Auch so ein Aufputschmittel. Da müssen sie aber meinen Vater fragen. Der hat mir davon erzählt. Ich meine, er hätte gesprochen, es wäre über die Alte Seidenstraße gelaufen, also China – Pakistan – Kasachstan – Türkei und dann den Ostblock entlang. China ist gerade dabei, die Route wieder neu aufzubauen. Vielleicht ist das schon der erste Handel.«
»Na, dann können wir uns auf einiges gefasst machen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann können Sie Tigerhoden verkaufen.« Alle im Raum lachten.« Ich bitte vielmals um Entschuldigung, meine Damen. Es tut mir leid.« Sie waren einiges gewöhnt und kicherten noch eine Weile weiter.
»Da ich schon mal hier bin. Haben Sie eine gute Schmerztablette für mich? Ich habe seit Wochen häufig Kopfschmerzen.«
Der Apotheker stellte einige Fragen zu seinem Gesundheitszustand und schlug ihm vor, sich den Blutdruck messen zu lassen. Dabei stellte dieser sich als mögliche Ursache für das Unwohlsein heraus.
Berendtsen machte ein nachdenkliches Gesicht. Er wollte den Wert nicht glauben. Schließlich beschloss er auf den Rat des Apothekers zu hören. Er erkundigte sich nach der Qualität der Ärzte im Haus und versprach, der Sache auf nachzugehen.
»Ein kleiner Tipp am Rande«, empfahl der Apotheker, als er bemerkte, wie Berendtsen seine Tüte aus der Tasche kramte. »Die Lakritze, die sie in der Tasche haben, würde ich als erste Maßnahme zur Senkung ihres Blutdrucks verschenken.«
Berendtsen machte sich auf zum Stadtsfeld. Er überlegte, ob er seiner Frau von dem Befund erzählen sollte, kam dann zu dem Entschluss, die restlichen Lakritze nicht zu verschenken.
Ein geruhsames Frühstück mit seiner Frau wollte er sich am Samstagmorgen nicht entgehen lassen. So erschien er erst um elf Uhr im Büro. Frau Bremer hatte ihm die gewünschten Adressen der Autobesitzer auf den Schreibtisch gelegt. Von den elf Kennzeichen einfielen zwei auf Borken, eines auf Coesfeld, ein polnisches Kennzeichen. Der Rest war in Recklinghausen zugelassen, wie zu erwarten war. Die Adressen der Fahrer waren einmal nach Namen und einmal nach Stadtteilen sortiert.
»Tolle Arbeit«, murmelte er vor sich hin, griff in seine Tasche und kramte ein Lakritz hervor, tauschte es jedoch gehorsam gegen ein Bärchen. Er drückte auf Hallsteins Kurzwahl. Zu seiner Verblüffung war der Mann im Büro.
»Moin, Herr Hallstein. Hätten Sie ein paar Minuten für mich oder sind Sie beschäftigt?«
Er hatte es nicht weit.
»Guten Morgen, Herr Berendtsen. Was liegt an?«
»Schön, dass sie an einem so strahlend schönen Samstagmorgen im Büro sind. Sie hätten sicher auch etwas anderes zu tun. Weshalb ich sie sprechen möchte: es stand ein Wagen mit polnischem Kennzeichen auf dem Parkplatz. Frau Barami war Polin. Außerdem hat Schmidt DNA von ihrem Bruder gefunden. Ich glaube nicht, dass der Vater hier war.«
»Ich habe den Bericht vorliegen. Deshalb bin ich heute hier. Mein Schwiegervater ist gebürtiger Pole. Wir haben mit den Behörden in Breslau gesprochen. Der Wagen ist dort auf einen Andreaz Barami zugelassen.«
»Das deutet darauf hin, dass er sich hier aufhält, zumindest hier war. … Aber wo? …«
»… und seit wann? Warum holt er seit Tagen den Wagen nicht ab? Hat er Angst?«
»Warum sind die Kolleginnen der Toten nicht aufgetaucht? Stehen sie unter Verdacht?«
»Auf meinem Weg hierher habe ich eine kleine Rundfahrt über den Parkplatz unternommen. Der Wagen stand wie er stand. Auch die Wohnwagen der Kolleginnen waren verwaist. Das Wohnmobil der Barami war abgeholt. Die KTU wollte sich darum kümmern. Sie wollen noch einmal alles auseinandernehmen. Hoffentlich haben sie Glück. Wir müssen uns leider eingestehen: wir haben nach drei Tagen so gut wie nichts.«
Hallstein öffnete die neu angekommene Mail auf seinem Handy. »Etwas haben wir«, meldete er freudig und zeigte seinem Kollegen das eingetroffene Bild. »Das ist das Passfoto von Jan Barami, dem Besitzer des polnischen Skoda vom Parkplatz. Adressdaten und Geburtsdatum sind auch mitgeliefert. Jetzt müssen wir ihn nur noch finden.«
»Gute Arbeit, Hallstein.« Berendtsen erhob sich von einem Sessel und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Sagen Sie ihrem Schwiegervater vielen Dank. Er hat uns sehr geholfen.« Berendtsen setzte sich wieder und wies Hallstein den anderen Sessel zu. »Sagen Sie mal, Hallstein, was halten sie von der Theorie … Ich will mal so anfangen …
Die drei Mädchen, Weiss, Glissow und unsere Tote kommen alle drei aus Polen. Ich setze den Fall, sie kannten sich schon, bevor sie hier ihr Geschäft angefangen haben. Das Auto des Bruders, dessen DNA in dem Wagen der Toten gefunden wurde – zunächst einmal nichts Besonderes, wenn ein Bruder seine Schwester besucht –, steht mindestens seit der Tatnacht auf dem Parkplatz und wird nicht abgeholt. Die drei Kennzeichen waren abmontiert und dann die gelben Pillen, die einzeln verkauft werden …«
»Sie meinen, dass alle vier, die beiden Brüder und die Weiss sowie die Glissow, gemeinsame Sache gemacht haben? Vielleicht mit den Pillen? Die Wirkung passt doch ins Milieu«, ging Hallstein auf seine Überlegungen ein.
»Genau.«
»Wenn der Bruder dahintersteckt -, warum hat er dann sein Kennzeichen am Wagen gelassen? Wie hat er sich vom Tatort entfernt? Offensichtlich hat er mit der Tat selbst nichts zu tun. Dann wäre er mit seinem Wagen gefahren.«
»Genau. Er hat seiner Schwester einen Besuch abgestattet – aus welchem Grund auch immer – und ist dann mit einem … ›Kollegen?‹ fort.« Berendtsen schrieb Anführungszeichen in die Luft. »Seltsam ist, dass der Wagen mindestens seit der Tatnacht dort steht.«
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