Das hörte natürlich die Kollegin Uhl und zog ein Gesicht. „Und wo soll ich jetzt korrigieren?“
„Im Konferenzraum, im Silentiumraum, in der Bibliothek, im Bibliotheksnebenraum, hier? Das Psychozimmer ist nur für Frau Zirngiebel gedacht.“
„Die ist doch da nie drin!“
„ Die ist da sehr wohl oft drin“, entgegnete Irene scharf. „Bitte reden Sie nicht so, als sei ich nicht anwesend. Außerdem liegen dort vertrauliche Akten, und gestern haben Sie sich geweigert, den Raum zu verlassen, obwohl ich einen Beratungstermin hatte!“
„Mein Gott, wozu brauchen Sie denn einen eigenen Raum! Um unfähigen Eltern und ihren dummen Kindern zu erklären, dass das Gör auf die Hauptschule gehört, wie die meisten hier? Das könnten Sie wirklich auch auf dem Gang erledigen, früher gab´s das sowieso nicht, dieses ganze Psychogeschwätz. Aber für Korrekturen braucht man absolute Ruhe! Haben Sie eine Ahnung, wie viel Arbeit so ein Übungsaufsatz macht?“
„Zufällig gebe ich auch Deutsch“, entgegnete Irene, „und wenn Sie absolute Ruhe brauchen, scheinen Sie mir ein kleines Konzentrationsproblem zu haben. Ich könnte Ihnen da eine sehr viel versprechende Therapie empfehlen.“
Die Uhl schoss mit einem Fauchen davon, wahrscheinlich, um sich beim Chef zu beklagen. Aber der hatte es sehr mit der Vertraulichkeit (Datenschutz!!) und würde sie abtropfen lassen.
„Dabei übersieht sie zwei Drittel aller Fehler und korrigiert immer noch nach der alten Rechtschreibung“, murmelte Irene rachsüchtig.
„Sie kommt auf die Liste“, beruhigte Luise sie.
„Welche Liste?“
„Die Liste von Leuten, die ich sofort feuern würde, wenn ich hier was zu sagen hätte. Und daneben schreibe ich, wann die wahrscheinlich von selbst gehen. Die Uhl ist doch bestimmt schon Ende fünfzig, oder?“
„Achtundvierzig“, seufzte Irene. „So alt, wie die ausschaut, wird sie nie werden. Und dieser früher-Quatsch! Ich bin länger hier als sie, und ich habe immer psychologische Beratung gemacht.“
„Wahrscheinlich ist ihr Unterricht gar nicht lehrplankonform“, schlug Luise vor. „Wir sollten mal die Deutsch-Fachbetreuung anspitzen.“
Dienstag, 21.11.2006 15:00
Allmählich reichte es ihr auch, dachte Luise, als sie sich streckte. Einem Referendar klar zu machen, warum seine Art, den Kongruenzbeweis einzuführen, umständlich und nicht altersgerecht war, kostete wirklich Zeit. Und den Vorschlag, die Aufgaben vorher zu Hause durchzurechnen, um nicht selbst unter verstohlenem Gekicher der Siebtklässler an der Tafel zu scheitern, war auch nicht wirklich auf Gegenliebe gestoßen.
„Machen Sie das etwa so?“, hatte er arrogant gefragt.
„Nein“, hatte Luise gesagt, „ich verrechne mich nämlich nicht. Außerdem hab ich logischerweise mehr Routine als Sie. Stellen Sie sich vor, Dr. Eisler hätte Ihre Vorstellung heute gesehen, was glauben Sie, wie sich das auf die Beurteilung auswirkt?“
Der Referendar hatte die Achseln gezuckt. „Na und? Mathematiker werden händeringend gesucht, egal wie der Durchschnitt aussieht.“
„Solange er wenigstens viernull ist, mag das stimmen“, hatte Luise scharf geantwortet, und er hatte blöde gelacht. „Na, durchfallen werde ich schon nicht!“
„Warum wollen Sie eigentlich Lehrer werden?“, hatte Luise daraufhin gefragt. „Aus Liebe zum Fach oder zu den Schülern ja wohl nicht, was?“
Er hatte frech gegrinst. „Aber aus Liebe zur Freizeit!“
Da fiel einem wirklich nichts mehr ein – man konnte nur hoffen, dass die Lehrprobe wirklich eine Fünf war, dann hatte er nämlich ein ernsthaftes Problem.
Das Mariengymnasium hatte jede Menge netter, engagierter und kompetenter Lehrer im Kollegium, aber heute hatte sie nur die Idioten getroffen. Und diese unsägliche Lichwitz hatte schon wieder ihre Bestellliste für die selbst eingemachten Marmeladen und Oliven ans Schwarze Brett gehängt, wo der Krempel nichts zu suchen hatte – nachher dachte noch irgendein Frischling, man müsse den Mist kaufen!
Luise nahm die Liste ab und pinnte sie ans Personalratsbrett. Sollten die sich die Lichwitz doch mal zur Brust nehmen!
Und sie würde jetzt nach Hause fahren, außer ihr war ohnehin niemand mehr da. Naja, nebenan im Direktorat schon noch, aber die wurden dafür auch deutlich besser bezahlt. Und sie würde sich ein nettes Ex für die siebte Klasse ausdenken und dann gemütlich ein bisschen zu Hause herumpusseln. Ja, und Valli anrufen, ob Johannes jetzt wieder aufgetaucht war und was er zu erzählen hatte!
Auf dem Weg nach draußen warf sie einen Blick auf den Vertretungsplan – oops, fehlten da morgen viele! Vier waren auf Fortbildung, zwei mit Kursen auf Exkursion, drei im Mutterschutz und sieben krank. Bei insgesamt rund achtzig Kollegen machte das summa summarum exakt zwanzig Prozent. Dann hatte sie selbst doch bestimmt… genau, morgen in der fünften die 8 b in Vertretung. Garantiert hatten die morgen nichts dabei, weil sie das angeblich nicht gesehen hatten, und schlugen dann vor, Hausaufgaben machen zu dürfen. Ja, nix! Sie würde ein gepflegtes Übungsblatt mitbringen. Im Geiste machte sie sich eine Notiz.
Krank – was die Leute bloß immer hatten? Sie selbst hatte noch nie einen Tag wegen Krankheit gefehlt, sie wusste gar nicht, was man da machen musste – zum Arzt gehen und sich krank schreiben lassen? Auch, wenn man bloß Kopfweh hatte? Wie sollte der Arzt rauskriegen, ob das überhaupt stimmte?
Gut, dass man morgens um halb sechs keine rechte Lust hatte, das kannte sie auch, aber dann ging man die Tagespflichten durch – in der einen Klasse letzte Stunde vor der Schulaufgabe, für die andere schon ein Ex gebastelt, zwei Schulaufgaben herausgabefähig, eine fertig zum Ablegen, mit Sowieso was zu besprechen, mehrere Anrufe, die von der Schule aus zu tätigen waren – wenn man zu Hause blieb, blieb so viel liegen, also ging krankfeiern gar nicht. Es passte eben nie!
Bei anderen offenbar schon. Oder die waren richtig krank, so mies beisammen, dass sie sich solche Fragen schon gar nicht mehr stellten.
Wahrscheinlich hatte sie selbst einfach nur Glück, dass ihr eben nie etwas fehlte. Auch wenn sie ihre Gene nicht kannte, schienen sie gut zu sein. Eigentlich merkwürdig: Mama war doch, so weit sie zurückdenken konnte, immer nur mit ihrer Gesundheit beschäftigt gewesen – also offenbar krank, wenn Luise auch nicht genau wusste, was ihr gefehlt hatte. Wahrscheinlich irgendein Krebs. Aber sie war mit vierunddreißig gestorben – war das für Krebs nicht fast ein bisschen jung? Und ihr Vater – tja. Der, den sie dafür gehalten hatte, war pumperlgesund, wenn auch stets schlecht gelaunt und besonders zu ihr unfreundlich. Kein Wunder, wenn sie ein Kuckucksei war! Und der, der´s wohl wirklich war, war ihr völlig unbekannt. Vielleicht keine guten Gene, sondern ein gesundes Leben?
Aber so toll lebte sie nun auch wieder nicht. Gut, etwas Joggen, etwas Fitness, nicht viel zu essen, keinen Alkohol, kein Nikotin, kein Sex, keinen emotionalen Stress. Wahrscheinlich war´s das – kein Stress, keine Krankheiten.
Dazu würde passen, dass Valli mindestens einmal pro Saison eine ordentliche Grippe hatte und Luise sich noch nie angesteckt hatte.
Irene fehlte selten, aber bestimmt zwei, drei Tage pro Schuljahr – und Lisa? Schwer zu sagen. Außerdem hatte sie für eine Theorie ohnehin zu wenige Daten. Sie sah auf die Uhr – jetzt hatte sie hier gut zehn Minuten herumsinniert! – und durchquerte die mit schmutzigem Marmor ausgelegte Halle. In den Ecken lagen Schokoriegelverpackungen und zerknüllte Papierservietten, die der Pausenaufräumdienst wohl übersehen hatte. Wer hatte denn diese Woche – na klar, 10 d. Die hatten mal wieder sehr flüchtig gearbeitet! Morgen mahnende Worte sprechen.
Draußen pfiff ein schneidend kalter Wind. Luise stellte den Kragen ihres Mantels hoch und hastete um die Ecke zum Parkplatz. Besser gesagt – sie wäre gehastet, wenn sich ihr nicht jemand in den Weg gestellt hätte.
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