Sie trat an den Anrufbeantworter und hörte die Nachrichten ab. Tatsächlich, sieben Stück, und jede zweite war von Valli. Dazwischen Max mit der Bitte um Rückruf, Brandstetter mit der dringenden Bitte um Rückruf und ihre Bank, ob sie schon einmal über Zertifikate nachgedacht habe? Hatte sie - und die Idee verworfen. Sie seufzte leise und rief Valli an, die zwar nicht verweint klang, aber nervös.
„Endlich! Wo warst du denn so lange?“
„In der Schule. Besprechungen und so weiter. Ist Johannes wieder aufgetaucht?“
„Nein, das ist es ja! Sie haben doch glatt hier angerufen, ob er krank ist, weil er nicht in der Arbeit erschienen ist.“
„Also, jetzt solltest du aber doch die Polizei informieren“, riet Luise, die sich allmählich wirklich Sorgen zu machen begann.
„Polizei? Meinst du wirklich?“
„Ja, Valli, meine ich. Schau, wenn ihm was passiert ist, finden die ihn doch viel schneller und man kann ihm helfen, was immer auch los ist. Und wenn ihm nichts passiert ist, schadet es ihm doch auch nichts, wenn er merkt, dass du dir Sorgen machst, oder?“
„Stimmt“, seufzte Valli. „Okay, dann rufe ich da mal an.“
„Kann man das telefonisch machen?“, wunderte sich Luise. „Ich kenn das ja auch bloß aus dem Fernsehen, und da muss man persönlich hingehen. Aber egal, ruf erstmal da an, die sagen dir dann schon, was du machen musst.“
„Eben. Das mach ich jetzt wirklich, weil ich mir mittlerweile ganz schöne Sorgen mache. So was hat er noch nie gemacht!“
Valli legte auf und Luise blieb still sitzen und überlegte, wie sie sich an ihrer Stelle wohl fühlen würde. Der Mann verschwunden. Der geliebte Mann. Wirklich? Die beiden waren seit vierzehn Jahren verheiratet und hatten drei Kinder und ein unbezahltes Haus. Hatte die Liebe die beiden zusammen gehalten oder das Wissen, dass bei einer Scheidung alles draufgehen würde? Zweckgemeinschaft oder Leidenschaft? Wie lange hielt sich Leidenschaft?
Was, wenn Johannes wirklich etwas zugestoßen war? Würde Valli zusammenbrechen oder des einigermaßen mit Fassung tragen? Und wenn sie zusammenbräche – aus Gram oder aus Hilflosigkeit? Aber hilflos war sie sonst ja auch nicht – nur heute Nacht, da hatte sie sich wirklich kindisch benommen.
Blödsinn, das alles: Johannes war einfach versackt! Nach vierzehn Jahren Bravheit stand ihm das ja wohl mal zu.
Luise wandte sich der Aufgabe zu, ein Extemporale für die siebte Klasse zu entwerfen, die Punkte zu verteilen und alles säuberlich abzutippen – in zwei Gruppen natürlich: Die spickten wie die Raben, allerdings ohne viel Geschick. Ob wohl wieder jemand aus Gruppe B die Rechnungen von A aufs Blatt schreiben und es nicht mal merken würde?
Schließlich war auch das erledigt, die Angabe steckte in einer Klarsichthülle und die in der richtigen Mappe, alles wurde wieder in der Tasche verstaut und Luise konnte sich – schon mit leise knurrendem Magen – ihren Terminplaner vornehmen.
Gar nicht so arg – vier Stunden plus eine Vertretung, dann konnte sie das Ex gleich morgen korrigieren. Offen war nur noch die WR-Klausur, die sie heute erst zurückgegeben hatte (lange Gesichter – wie üblich bei den falschen Leuten). Ausnahmsweise keine Besprechungen, keine Unterrichtsbesuche, keine Fortbildungen – nur eine lumpige Pausenaufsicht.
Sie war so richtig schön auf dem Laufenden – dann konnte sie sich ja jetzt eigentlich eins dieser fettfreien Süppchen kochen und sich einen Film reinziehen? Nein, zuerst ein bisschen laufen. Eine halbe Stunde wenigstens, ein paar Mal rund um den Waldburgplatz, das reichte.
Sie schlüpfte in Trainingsanzug und Laufschuhe, steckte ihren Schlüssel und etwas Geld ein und trabte gemächlich los. Ab und zu kam ihr jemand entgegen, den sie vom Laufen kannte, dann nickte sie gemessen und trabte weiter. Schön… die kalte, feuchte Luft wirkte nach dem Schulstaub richtig erfrischend, der Spätnachmittagsnebel, der zwischen den großen alten Bäumen aufstieg, verlieh dem Platz ein gespenstisches Aussehen, und das blaue Licht, das schwächlich durch den Nebel blinzelte, erinnerte sie daran, dass dort hinten der Drogeriemarkt war, bei dem es immer die wunderbarsten Schaumbäder gab. Ein, zwei Fläschchen konnte sie sich gönnen, wenn die halbe Stunde vorbei war.
Dass Johannes ausgerechnet jetzt seine Freiheit ausleben wollte? Was hieß denn ausgerechnet jetzt , tadelte Luise sofort ihren Denkfehler, für ihn und Valli war gestern ein Tag wie jeder andere gewesen. Nur sie selbst war ganz von der Rolle, weil die Lemuren aus der Vergangenheit ein kurzes Gastspiel gegeben hatten.
Es war doch ein kurzes Gastspiel? Eine einzige Vorstellung hoffentlich nur? Wenn Max es sich zur Gewohnheit machte, dauernd vor der Schule herumzulungern, würde es lästig werden. Und die ständigen Anrufe von Brandstetter auch. Den würde sie nachher zurückrufen und ihm ein für alle Mal klar machen, dass es ihr blendend ging und er sich diesen Pflichtteil sonst wohin stecken konnte.
Bloß gut, dass nicht auch noch Frank und Philipp zum Hörer gegriffen hatten, die waren die allerunsympathischsten von der ganzen blöden Bande.
Nein, die würden heilfroh sein, dass das ganze Kapital in der Firma blieb und niemand etwas abgeben musste, die würden sich hüten, ihr den Pflichtteil aufzudrängen. Und diese Angela machte einen recht geldgeilen Eindruck, fand Luise, als sie zum fünften Mal am Denkmal von Sigismund von Waldburg vorbeitrabte. Schluss mit diesen Gedanken, die Erholung war nur perfekt, wenn man an etwas Schönes oder an gar nichts dachte.
Am besten an gar nichts, etwas Schönes fiel ihr nämlich nicht ein – außer ihrem perfekt abgehakten Zeitplanbuch.
Also versuchte sie auf den letzten beiden Runden an nichts zu denken und joggte dann eher gemächlich in Richtung Drogeriemarkt, wo sie längere Zeit vor dem Regal mit den Schaumbädern verweilte. Blutorange und Rose/Yasmin – perfekt. Zu Hause angekommen, streifte sie den Jogginganzug, das schweißfeuchte T-Shirt und die ebenfalls feuchte Unterwäsche ab, duschte flüchtig und schlüpfte in uralte, aber ganz weiche Jeans und ein ebenso abgetragenes Sweatshirt. Sie kam sich vor wie in der Weichspülerwerbung, es fehlte bloß noch der Holzsteg mit Blick über den abendlichen See.
Zufrieden ging sie in die Küche. Nein, kein fettfreies Süppchen, die waren ja möglicherweise gesund, aber unglaublich langweilig. Sie hatte heute eine Menge geschafft, war brav gejoggt und hatte außer ihrem Pausenbrot (gut, Vollkornbrot mit fettfreiem Schinken, weniger fettfreiem Käse, Salat und Tomaten, ein richtiger Sattmacher) noch gar nichts gegessen. Jetzt gab es etwas Richtiges! Naja, richtig – mit dem Selbermachen hatte sie es nicht wirklich, also gab es tiefgefrorene Gemüsepfanne mit ein paar Nudeln.
Und danach… Golden Eye ? Stolz und Vorurteil ? Casablanca ? Alles viel zu anstrengend. Sie trug den Teller ins Wohnzimmer, stellte ihn auf den Tisch und legte die erste Staffel Kommissar Rex ein. Das kannte sie, das war harmlos und dauerte nicht lange. Sicher, man könnte auch etwas Wertvolles lesen, überlegte sie, als sie mit der linken Hand den Film startete und mit der Rechten ein paar Nudeln und Bohnen aufgabelte, aber dazu hatte sie heute wirklich keine Lust.
Sie aß und guckte und fand diese hirnlose Beschäftigung herrlich entspannend – bis das Telefon läutete.
Sie nahm ab. „Valli?“
„Was – äh, nein. Hier ist Brandstetter. Frau Wintrich?“
„Ja“, gab Luise ungern zu. „Herr Brandstetter, mein Essen wird kalt. Wenn ich nicht gedacht hätte, es sei etwas Wichtiges, wäre ich gar nicht drangegangen. Zum allerletzten Mal, ich will keinen Pflichtteil und ich wünsche keinen Kontakt mit den übrigen Herrschaften Wintrich. Ist das jetzt klar?“
„Sie sollten das nicht überstürzen, Frau Wintrich!“
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