„Möchten Sie einen Kaffee? Oder ein Wasser?“
Beide lehnten ab und wünschten die Fotos und Alben zu sehen. Mathilde holte eifrig alles herbei und ließ sich in den rissigen Ledersessel fallen, um den beiden beim Studium zuzusehen.
Sie betrachteten alles konzentriert, tauschten sich leise über das aus, was sie sahen, und brummten unzufrieden vor sich hin.
Mathilde fühlte absurderweise das Bedürfnis, sich für das unzureichende Material zu entschuldigen – aber was konnte sie für ihre schreckliche Familie? Und ihr hatte ja ohnehin nie jemand was erzählt. Einmal hatte sie die Nonna gefragt – als sie ungefähr zehn war – wo denn die Mama eigentlich hin sei, und da hatte die Nonna nur gesagt: „Weg.“ Und dabei hatte sie ein Gesicht gemacht, dass Mathilde sich nicht traute, weiter zu fragen.
„Gesine?“, fragte die Malzahn schließlich.
„Ja?“ Mathilde verstand nicht recht, was sie wollte.
„Eine Gesine haben wir im Netz gefunden. Wissen Sie etwas über sie?“
Mathilde fiel etwas ein. „Ja… in dem Album gibt´s ein Bild, Walter bestaunt seine kleine Schwester – das war dann wohl meine Tante. Woran die nun wieder gestorben ist… Allmählich glaube ich, ich werde auch nicht besonders alt, bei den Erbanlagen…“
„Unsinn. Ihre Großeltern haben doch ein recht gesegnetes Alter erreicht, und Ihr Vater ist bei einem Autounfall umgekommen.“
„Ach ja?“
„Das wussten Sie auch nicht?“, fragte Schönberger.
Mathilde hoffte, dass ihr der betont nachsichtige Gesichtsausdruck gelungen war. Offenbar ja, Schönberger seufzte. „Schon klar – Sie wussten gar nichts.“
„Ganz richtig. Also, mein Vater ist bei einem Unfall umgekommen. War meine Mutter möglicherweise schuld an diesem Unfall? Wurde sie deshalb so totgeschwiegen? Ach, Blödsinn, sie haben ja auch meinen Vater totgeschwiegen, und der war der Sohn. Vielleicht haben beide irgendwas Grässliches angestellt… aber dann hätten sie mich doch auch bei meinen Eltern lassen können – sie mochten mich doch sowieso nicht.“ Sie stöhnte auf. „Nein, hören Sie mir gar nicht zu, das ist ja alles Quatsch.“
„Ziemlich“, gab ihr die Malzahn freundlich Recht. „Vermutlich ist nämlich außer Ihrer Großmutter überhaupt niemand tot – ja, gut, Ihr Vater natürlich auch. Es gibt da einen Pressebericht im Internet, googeln Sie den bei Gelegenheit mal. Diese Gesine lebt in Ravenna, aber bis jetzt haben wir sie noch nicht erreicht.“
„Ah ja“, machte Mathilde. „Ich möchte mal wissen, warum die auch totgeschwiegen wurde. Was sagt eigentlich mein Großvater dazu? Oder dürfen Sie mir dazu nichts sagen?“
„Eigentlich nicht“, antwortete die Malzahn langsam, „aber da haben wir auch einen gewissen Ermessensspielraum. Ihr Herr Großvater hat also gesagt, er habe keine Tochter mehr. Wir hatten aber eigentlich gefragt, ob er außer Ihrem Vater noch weitere Kinder habe. Die seltsame Antwort war schon verdächtig.“
„Wahrscheinlich haben sie diese Gesine einfach weggebissen“, vermutete Mathilde. „Aber wenn sie alle in die Verbannung schicken, die ihnen nicht passen, hätten sie mich doch auch in ein nettes, freundliches Waisenhaus stecken können? Dann hätte ich vielleicht eine schönere Kindheit gehabt.“
Malzahn und Schönberger schauten mitfühlend drein, dann räusperte sich die Malzahn, die eindeutig aus härterem Holz geschnitzt war, und griff nach einem Stapel loser Fotos. Nachdem sie sie durchgeblättert hatte, sah sie Mathilde ärgerlich an: „Was sollen wir denn damit?“
Mathilde zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, wer da drauf ist. Und da ich überhaupt nichts weiß, weiß ich natürlich auch nicht, was hier wichtig ist und was nicht. Ich hab einfach mal alles hergerichtet, was ich gefunden habe. Sie dürfen das alles auch gerne mitnehmen, mir genügt es völlig, wenn ich irgendwann mal ein Bild von der Tante Anni wieder kriege. Die war ja wohl die einzige Nette in der Familie, und sie hat mir diese Wohnung vererbt.“
Schönberger nickte und packte Album und lose Fotos in eine Tüte, dann holte er das Album wieder heraus, blätterte es durch, löste ein Foto vorsichtig heraus und reichte es Mathilde: Tante Anni in ihren letzten Jahren. Ja, so konnte sie sich auch an sie erinnern.
„Danke schön. Ich werde es rahmen und aufstellen. Haben Sie denn sonst noch Fragen?“
Hatten sie nicht. Mathilde brachte die beiden zur Tür und ging dann auf die Suche nach einem geeigneten Rahmen. Tatsächlich fand sie etwas – einen Rahmen aus Kirschbaumholz in der richtigen Größe, in dem zwar ein Foto steckte, aber ein eher belangloses, ein Schwarzweißfoto eines gigantischen Blumenstraußes. Damit konnte nun außer Tante Anni selbst niemand etwas anfangen.
Gerahmt sah das Bild von Tante Anni richtig gut aus. Sie stellte den Rahmen ins Wohnzimmerregal, damit Tante Anni ihr beim Ausmisten zusehen konnte, dann holte sie sich eine Handvoll Plastiktüten aus der Küche und ging vor den Unterschränken in die Hocke.
Oha!
Noch mehr Zeitschriften.
Noch mehr alte Klatschzeitschriften. Sie interessierte sich eigentlich gar nicht für gekrönte Häupter und ähnlichen Kram, aber dann suchte sie doch einige interessante Hefte heraus, zum Beispiel aus der Woche, als Prinzessin Diana verunglückt war. Einige andere spektakuläre Fürstenhochzeiten legte sie ebenfalls beiseite und entsorgte dann den Rest.
Hm… aber würde sie diese geretteten Hefte denn jemals ansehen? Wohl kaum, beschloss sie. Und wert waren sie auch nichts. Was sie gerne gehabt hätte, wäre der „Stern“ gewesen – die Ausgabe, in die die Hitler-Tagebücher angekündigt wurden. Aber so etwas hatte Tante Anni offenbar nicht gelesen.
Mathilde rappelte sich auf, stopfte wirklich alles in die Tüten und schleifte alles zum Papiercontainer.
Wieder zwei völlig leere Schränke, freute sie sich hinterher und wischte beide sorgfältig aus. Für heute war das schon sehr ordentlich – und jetzt würde sie noch etwas für die Lesefabrik heraussuchen. Sie sortierte noch so viele schmalzige Schmöker aus, gebunden mit grellbuntem Schutzumschlag, dass es für zwei weitere Tüten reichte - dann hatte sie genug. Morgen würde das alles weggetragen, und dann sähe es hier schon geringfügig besser aus.
Sie musste sich schon im Unterbewusstsein auf die Entsorgungsaktion gefreut haben – oder was sollte sie sonst schon um sechs Uhr aus dem Bett getrieben haben?
Nach einer hastigen Dusche und der zügigen Auswahl der Kleidung (grau oder schwarz? Mehr war ja sowieso nicht vorhanden) stellte sie ihre ganze Ausbeute bereit, verstaute die Bücher und Romanheftchen etwas geschickter im einen Korb und die Geschirrproben und das silberne Teeset im anderen und setzte sich wieder an ihre Dissertation – vor neun machten Lesefabrik und Ronny nicht auf.
Die Sache mit Herbert Simms war drin, das Fazit aus diesem Kapitel konnte noch etwas griffiger formuliert werden – und eine passende Zweitquelle hatte sie dazu doch auch noch? Sie blätterte durch ihre beiden Materialordner, fand, was sie gesucht hatte, und arbeitete es ein, dann sah sie sich seufzend um. Wenn sie ihre übrigen eigenen Ordner hier vernünftig aufstellen könnte…
Okay, zwei Tüten voller Kram fürs Altpapier!
Im Arbeitszimmer fand sie Eigentümerprotokolle in sieben Ordnern, von denen keiner voll war; sie räumte sie platzsparender auf und klebte Post-its auf die Ordner, dann stopfte sie alles andere, auch eine Menge völlig uninteressanter Broschüren, in einen weiteren Korb und trug den umgehend zum Altpapier.
Jetzt musste sie wohl mit weiteren Aktionen warten, bis die Container gelehrt wurden. Oder zu dem Standplatz an der Uni gehen.
Aber drei leere Regalfächer im Arbeitszimmer waren doch auch ein Gewinn! Sie wischte wieder alles sorgfältig aus und beschloss, dass sie langsam aufbrechen konnte.
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