„Das hoffe ich doch nicht. Es sei denn, die Kripo verdächtigt mich. Ein Alibi habe ich nämlich blöderweise nicht.“
„Ach!“ Wintersteiner setzte sich auf die Schreibtischkante. „Soll das etwa heißen, Ihre Großmutter ist keine natürlichen Todes gestorben?“
Mathilde nickte. „Aber wie genau, das weiß ich auch nicht. Das haben mir die beiden von der Kripo nicht gesagt, und ich weiß auch gar nicht, ob ich das wissen will.“
„Verständlich.“ Wintersteiner rutschte wieder vom Schreibtisch und klopfte Mathilde etwas ungeschickt auf die Schulter. Mathilde bemühte sich, nicht zusammenzuzucken – seit wie vielen Jahren hatte sie niemand mehr berührt? Seit Manuel Keppel vermutlich.
Als die Nonna herausgebracht hatte, dass Manuel sich mit Mathilde angefreundet hatte (wie weit das gegangen war, wusste sie glücklicherweise nicht), hatte sie sofort reagiert: Manuels Mutter arbeitete als Filialleiterin bei Carin, und vor die Wahl gestellt, ihren Job zu verlieren oder Manuel soweit zu bringen, sofort mit Mathilde Schluss zu machen, entschied sie sich richtig. Manuel sagte allerdings Mathilde die Wahrheit, als er sich von ihr trennte, und Mathilde war ihm nicht weiter böse – gegen die Nonna kam man nicht an, das wusste sie auch mit sechzehn schon.
Danach hatte sie sich weitere Beziehungen verkniffen – die Nonna kriegte ja doch alles heraus, und dann gab es nur Stress. Jetzt konnte sie eigentlich wieder einen Freund haben, überlegte sie, während sie Wintersteiner nachsah, der in sein Büro zurückkehrte, aber wollte sie das überhaupt? Hatte sie sich nicht längst an das Alleinleben gewöhnt?
Sie hatte ja nicht einmal eine richtige Freundin, fiel ihr ein.
Aber woher nehmen? An Mädchen aus der Schule konnte sie sich kaum noch erinnern, die Kolleginnen bei Lingua waren ganz nett, aber mehr auch nicht, und an der Uni traf man auch nur Leute, die bereits in festen Freundeskreisen aufgehoben waren oder sich nur für ihre Forschungen interessierten.
Egal. Mit der Wohnung war sie bestimmt noch das nächste Jahr beschäftigt, und bis dahin hatte sie auch fertig promoviert. Sie hatte im Moment ja selbst keine Zeit für Freundinnen, Männer oder Verwandte. Obwohl, Verwandte hatte sie ja nun sowieso nicht mehr.
Und jetzt würde sie erst einmal in Ruhe weiterarbeiten. Sich unentbehrlich machen, sich eine sichere Position schaffen. Und dazu sollte sie sich jetzt unbedingt diese neue Übung ansehen – da stimmte doch was nicht?
Anne und Joe sahen sich in der Schellingstraße um, dann seufzte Anne: „Komplett tote Hose. Hier möchte man ja nicht mal tot überm Lattenzaun hängen!“
„Langweilig ist es hier auf jeden Fall. Und die Hütte von den Carins hat auch so was Düsteres… da hätte ich auch nicht aufwachsen mögen“, stimmte Joe zu und drückte entschlossen auf den Klingelknopf.
„Nicht mal ein Namensschild“, murrte Anne und folgte ihm, als der Summer ertönte.
In der Haustür stand eine Frau um die Sechzig in biederer Kleidung und mit grimmiger Miene. „Ja?“
„Kripo Leisenberg“, antwortete Anne kalt und hielt ihren Ausweis hoch. Joe tat es ihr gleich.
„Schon wieder…“
„Und wer sind Sie?“
„Thea Deinlein. Ich führe den Herrschaften den Haushalt.“
„Die Haushälterin also“, folgerte Joe nicht allzu geistreich.
„Die Haus dame “, wurde er pikiert verbessert, aber immerhin trat Frau Deinlein nun wenigstens soweit zur Seite, dass sie beide eintreten konnten.
Düstere Halle, dunkle, gedrechselte Möbel – die hatten ihnen schon nicht gefallen, als sie zum Tatort gerufen worden waren. Und kalt war es hier!
Joe schauerte und warf Anne einen sprechenden Blick zu. Anne zuckte die Schultern. „Ist wohl auch schwer zu heizen.“
Das trug ihr einen giftigen Blick von der Deinlein ein, die ihnen gemessen voranschritt.
„Herr Carin? Die – äh – Leute von der Polizei sind schon wieder da?“
„Nochmal?“ Regelrecht greinend.
„Ja, tut uns Leid“, sagte Anne munter, schob die Deinlein etwas beiseite und betrat forsch das Arbeitszimmer, in dem Viktor Carin hinter einem imposanten Schreibtisch saß. Joe hatte einen Moment lang Mitleid – was jetzt wohl alles zu regeln war, Karten, Beerdigung, Anzeigen…
Obwohl, wie viele Verwandte und Freunde hatte er denn schon? Der Enkelin zufolge gab es doch keine Familie mehr, und zumindest mit der Nachbarschaft waren die Carins ja wohl flächendeckend verkracht. Na gut, diese Tochter in Ravenna gab es auch noch – aber hatten die überhaupt Kontakt?
Außerdem sah der Schreibtisch so gar nicht nach Arbeit aus, die Arbeitsplatte glänzte, der schwere Füller lag in der silbernen Stifteschale, und außer einer schmalen Mappe war weiter nichts auf dem Tisch zu sehen. Wenn der Alte Arbeit vortäuschen wollte, musste er sich aber mehr anstrengen!
„Was wollen Sie denn schon wieder?“, murrte er und starrte Anne und Joe aus seinen blassblauen Augen erbost an.
Hatte wirklich mal gut ausgesehen, stellte Anne leidenschaftslos fest, elegant geschnittenes Gesicht – aber nun war er schon recht klapprig. Zweiundachtzig, wenn sie sich recht an die Akten erinnerte. Seine ermordete Frau war achtundsiebzig geworden.
Ja, klapprig. Und er wirkte schwächlich. Nicht physisch, sondern charakterlich, soweit man das ohne nähere Kenntnis beurteilen konnte, aber dieses mürrische und etwas selbstmitleidige Gehabe…
„Ich gehe doch davon aus, dass Sie uns gerne dabei unterstützen möchten, den Mörder Ihrer Frau zu finden?“, erkundigte sie sich mit seidiger Stimme. Joe allerdings hörte einen giftigen Unterton heraus – der olle Carin sollte sich in Acht nehmen: Wenn Anne erst mal wütend wurde…
„Na, hier finden Sie den Mörder ganz bestimmt nicht. Oder glauben Sie, dass ich es war? Oder Frau Deinlein? Machen Sie sich doch nicht lächerlich!“
„Dann haben Sie sicher einen Vorschlag?“, versuchte Joe es mit der freundlichen Tour.
„Ich? Wieso ich? Ist das vielleicht meine Aufgabe? Wozu zahle ich Unsummen an Steuern? Aber schauen Sie sich doch mal in der Nachbarschaft um. Oder unsere missratene – naja – Enkelin, wenn die überhaupt noch lebt, bei dem Lebenswandel…“
„Sie lebt noch, keine Sorge“, fauchte Anne. „Was heißt hier überhaupt Lebenswandel ?“
„Ach, dieses verkommene Gör, da haben wir ja wirklich nicht mehr viel erwartet. Und sie hat sich ja auch nie mehr bei uns gemeldet – also, nicht, dass wir sie noch hereingelassen hätten…“
„Warum hätte sie sich denn dann melden sollen?“, konnte Joe sich nicht mehr bezähmen.
„Aus Respekt vor uns? Immerhin haben wir sie aufgezogen, oder? Meine Frau war da einfach viel zu weichherzig. Ich wäre eher dafür gewesen, das Kind einfach in ein Heim zu geben, wo man mit solchen Kindern richtig umgehen kann – aber Maria meinte ja, das wäre nicht so klug, wir sollten lieber selbst… das hat sie jetzt davon.“
Er versank in brütendes Schweigen.
Anne und Joe schauten sich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Wie meinen Sie das – solche Kinder?“, fragte Anne dann. „Hatte Mathilde denn ein Problem?“
„Na, wenn Sie ihren Namen kennen, haben Sie wohl schon mit ihr gesprochen, dann müssten Sie ja wohl auch Bescheid wissen, wenn Sie ein bisschen aufgepasst haben!“
Vorwurfsvoller Blick.
„Frau Mathilde Carin ist eine sehr ordentliche junge Frau, sie promoviert gerade und arbeitet in einem Verlag. Ein bisschen unfroh vielleicht, das mag von der schweren Kindheit herrühren“, provozierte Anne den alten Herrn noch weiter – vielleicht gab ein kleiner Wutausbruch ja mehr Aufschluss?
„Da sieht man´s wieder – bei der Polizei sind heute einfach die falschen Leute. Junge Frau, Sie haben offenbar viel zu wenig Erfahrung und Menschenkenntnis. Diese – äh – Mathilde kann gar keine ordentliche junge Frau sein.“
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