„Warum nicht?“ Joe versuchte die rundäugige Masche Marke Großvater, erklär mir die Welt .
„Schlechtes Blut“, wurde er kurz abgefertigt.
„Was soll das denn heißen?“, mischte sich Anne wieder ein. „Meinen Sie das im Nazi-Sinn oder wie? Mathilde ist doch die Tochter Ihres Sohnes? Hatte der dann auch schlechtes Blut?“
„Werden Sie nicht unverschämt, junge Frau.“
Joe warf Anne einen Blick zu. Jetzt musste sie doch ausrasten? Noch schlimmer als „Junge Frau“ waren bloß „Mausi“ oder „Süße“. Dann bestand ernsthaft die Gefahr, dass sie zuschlug.
Tatsächlich machte Anne ihre berüchtigten schmalen Augen. „Entweder kommen Sie jetzt mal mit Fakten rüber, oder wir unterhalten uns im Präsidium weiter. Wenn Ihnen das natürlich lieber ist…“ Es gelang ihr, dabei auch noch einen angeekelten Blick einmal rund um das altmodische und etwas abgewirtschaftete Arbeitszimmer schweifen zu lassen. Joe bewahrte mühsam eine ernsthafte Miene.
Carin grummelte vor sich hin, dann entschied er sich offenbar doch dafür, lieber hier bleiben zu wollen. „Natürlich war unser Walter nicht das Problem! Ach, dass wir ihn verloren haben… daran war natürlich auch diese Straßengöre schuld. Und Mathilde schlägt ihr doch in allem nach!“
„Straßengöre?“
„Na, diese Anette! Ich bitte Sie, wie kann ein ordentlich erzogener junger Mann, vor dem die schönste Zukunft liegt, eine solche – äh – Person heiraten? Ein richtiges Früchtchen, ohne Kinderstube, ohne angemessenen Background. Eine richtige Mesalliance war das, wir waren entsetzt, das kann ich Ihnen sagen! Aber unser Walter war ja so betört von dieser Person, es war kein Durchkommen zu ihm. Und kaum war diese unglückselige Verbindung ein paar Monate alt, verkünden die beiden auch noch strahlend, dass sie ein Kind bekommen! Solches Blut in unserer Familie! Maria und ich waren wirklich verzweifelt, das kann ich Ihnen sagen.“
Er wischte sich mit zittriger Hand über die Augen.
„Ich habe nur immer noch nicht verstanden, was an dieser Anette gar so furchtbar war“, merkte Anne an. „Hat sie sich schlecht benommen? War sie keine – äh – Deutsche oder so? Litt sie an einer Erbkrankheit? Ich kann mit Ihren Hinweisen auf das Blut nichts anfangen.“
Carin warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Dass Sie für so etwas keinen Blick haben, wundert mich nicht, wahrscheinlich sind Sie auch nicht besser.“
„Mir scheint, Sie hätten gerne eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung?“, schlug Joe seidenweich vor. „Wenn Sie so weitermachen, können wir Ihnen da sicher behilflich sein. Was war jetzt an Ihrer Schwiegertochter so schlimm?“
„Na, die Herkunft! Ist doch klar! Wir gehörten immerhin zur Oberschicht dieser Stadt!“
„Aha“, machte Anne und sah sich naserümpfend um, dann nieste sie. „Bisschen staubig hier.“
Frau Deinlein, die in diesem Moment ihrem Dienstherrn einen Kaffee servierte – der Polizei wurde natürlich keiner angeboten – schnaubte. „Für die gnädigen Herrschaften war es immer gut genug!“
„Staubwischen könnten Sie hier wirklich mal wieder“, sagte da der alte Carin und erntete einen waidwunden Blick. Beim Gehen zog Frau Deinlein die Tür auch um einen Hauch lauter als notwendig zu.
„Also, Sie sind sozusagen Patrizier, ja?“, knüpfte Joe dort an, wo Frau Deinlein sie unterbrochen hatte. „Und was war dann bitte Anette?“
„Eine kleine Proletin“, murrte Carin und schüttete sich Unmengen Zucker in den Kaffee. Anne wünschte ihm einen ordentlichen Diabetes an den Hals und wartete.
„Eine Fabrikarbeiterin? Wo hat Ihr Sohn sie denn kennen gelernt?“, bohrte Joe weiter.
„Ach nein, ihr Vater war wohl so ein kleiner Lehrer oder so, und sie hat auch ihre Zeit an der Universität vertrödelt, Germanistik oder sonst etwas Überflüssiges…“
„Na, das nenne ich dann doch obere Mittelschicht“, verwertete Joe ein altes Seminar über die Soziologie der Bundesrepublik, in das er sich einmal wegen eines Mädchens verirrt hatte.
„Auf jeden Fall unpassend“, beharrte Carin.
„Und hat Ihr Sohn denn nicht studiert? Weil Sie ein Studium für überflüssig halten?“
„Natürlich hat er studiert! Er sollte doch eines Tages den Betrieb übernehmen, wir hatten immerhin fünf Filialen! Elegantes Heim , kennen Sie natürlich nicht.“
„Natürlich nicht“, bestätigte Anne giftig. „Weil wir kulturlose Idioten sind oder weil die Kette längst eingegangen ist?“
Ein müder Blick.
„Nach Walters Tod hatte die Kette ja nicht mehr viel Zukunft. Als wir beide älter wurden, haben wir alles verkauft. Ich glaube, einige der Läden heißen heute Hingucker . Albern. Naja, das ist wohl der Zeitgeschmack…“
Anne nickte. „Und sonst hatten Sie keine Kinder, ich verstehe schon…“
„Richtig. Ich habe keine Tochter mehr. Und nach Walters Tod… wir konnten das Kind doch nicht bei dieser Person lassen… dieses unreife Gör… ein solches Kind braucht schließlich eine feste Hand. Wie gesagt, ich wäre für ein Heim gewesen – oder doch so früh wie möglich für ein strenges Internat, am besten ein kirchliches.“
„Aber Ihre Frau hatte andere Pläne?“
„Ach ja… Sie war nicht sicher, wie das aussähe… aber dass das Kind eine strenge Hand brauchte, wusste sie natürlich auch…“
Bevor Anne endgültig explodieren konnte, klingelte es an der Tür. In der Ferne der Eingangshalle war ein Disput zwischen der Deinlein und einer anderen Frau zu hören, dann sagte die unbekannte Stimme: „Ach was, das haben Sie ja wohl nicht zu entscheiden!“.
Einen Moment später wurde die Tür zum Arbeitszimmer aufgestoßen, und eine Frau zwischen Vierzig und Fünfzig eilte herein. „Herr Carin, ich habe es gerade erst gehört – wie furchtbar für Sie! Sie Armer! Wie müssen Sie sich jetzt fühlen! Kann ich denn irgendetwas für Sie tun?“
Carin blinzelte leicht verblüfft in Richtung der Besucherin. „Oh – äh – danke, Frau Zenn, das ist – äh – sehr nett von Ihnen…“ Er verstummte unentschlossen.
„Wer sind Sie denn?“, fragte Anne.
Die Dame schoss sofort zurück. „Und wer sind Sie überhaupt?“
„Kripo Leisenberg“, antwortete Anne kalt und zückte ihren Ausweis. „Malzahn. Mein Kollege Schönberger. Also?“
„Elfriede Zenn. Ich bin eine Nachbarin. Als ich gehört habe, was hier vorgefallen ist… der arme Herr Carin!“
Die Tote bedauerte niemand, stellte Joe fest, aber die schien ja auch ordentlich Haare auf den Zähnen gehabt zu haben. Andererseits war der grässliche Alte auch nicht viel besser. Die Enkelin konnte einem wirklich nur leidtun.
Carin wirkte etwas entspannter, das Bedauern tat ihm offenbar gut. „Kann ich denn etwas für Sie tun? Ich könnte Ihnen einen Kuchen bringen… meinen berühmten Kirschkuchen, den mögen Sie doch so gerne?“
Anne mischte sich wieder ein, denn Kirschkuchen war jetzt eigentlich nicht das Thema.
„Sie sind eine Nachbarin? Dann sagen Sie uns doch sicher gerne Ihre Adresse?“
„Schopenhauerplatz 3“, war die etwas verkniffene Antwort.
„Und Sie waren sicher auch mit Frau Carin befreundet?“
„Warum wollen Sie – ja, natürlich! So eine nette Frau!“
Ach ja?
„Dann wissen Sie sicher auch, wer vielleicht hier etwas gegen sie gehabt haben könnte?“, fragte Joe und zog sein in solchen Fällen bewährtes Schwiegersohn-Gesicht.
Tatsächlich lächelte die Zenn kurz und fuhr sich glättend über die etwas metallisch blonden Locken. Dann dachte sie heftig nach – oder tat wenigstens so.
„Gegen Frau Carin – nein, das wüsste ich eigentlich nicht. Sie war doch eine reizende Nachbarin. Gut, wenn dieses eigenartige Volk aus den billigen Reihenhäuschen Lärm machte, konnte sie schon energisch werden, aber dabei standen wir doch alle hinter ihr!“
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