„Sie meinen diese Neubauten in der Kantstraße? Warum wohnen da eigenartige Leute?“
„Ach, so richtige Unruhestifter. Mit Kindern! Kein Benehmen. Ich glaube, manche haben sogar Tiere, Hunde und Katzen, furchtbar. Das ist hier doch eine ruhige, anständige Gegend, hier wird nicht gegrillt, gebellt oder laut gespielt. Frau Carin hatte sich damals sehr dafür eingesetzt, diese Reihenhäuser zu verhindern, aber leider erfolglos. Wissen Sie noch, Herr Carin? Es gab doch auch die Idee, aus dem Grundstück einen Park zu machen.“
Anne verdrehte die Augen. „Dass es in Leisenberg einen großen Bedarf an Wohnungen gibt, ist Ihnen noch nicht aufgefallen?“
Die Zenn schnaubte. „Solche – äh – Bedürftigen haben aber doch in Henting nichts zu suchen. Kann man da nicht ein paar Hochhäuser am Kreuz West hochziehen? Das reicht doch wohl für solche Leute?“
Anne und Joe wechselten einen Blick, dann verteilten sie ihre Visitenkarten, notierten die Telefonnummern und verzogen sich nach draußen.
„Gott, was für ein asoziales Pack“, stöhnte Anne draußen. „Ich war jetzt echt kurz davor, dieser Zenn eins reinzuhauen.“
„Dann schimpft aber der Chef“, kommentierte Joe, der ohne Diskussion auf der Beifahrerseite einsteigen wollte. „Allerdings fand ich die alle auch zum Reinhauen blöd. Diese unglaubliche Arroganz!“
„Und diese Verlogenheit“, fügte Anne hinzu und betrachtete Joe über das Wagendach. „Warum stehst du da eigentlich? Wir schauen uns jetzt erst einmal diese Reihenhäuser genauer an, da könnte es wirklich Leute geben, die was gegen die alte Carin hatten. Hat diese Mathilde nicht was in der Art erwähnt?“
„Ja, einer hat Alte Hexe gesagt. Auf der Höhe dieser düsteren Villa. Gut, du hast Recht, gehen wir.“
Es gab an der entsprechenden Stelle sechs Reihenhäuser, mit Pultdach, interessanter Fassadengestaltung und Sonnenkollektoren auf dem Dach. Höchstens drei Jahre alt, schätzte Anne. Die Vorgärten lagen zum Teil voller Kinderkram – Bobbycars, Fahrräder, Bollerwägen, Anne sah sogar eine vergessene Puppe.
„Die reinste IKEA-Idylle. Und dann um die Ecke die Hexe aus dem Lebkuchenhaus“, kommentierte Joe. Anne sah ihn erheitert an. „Nicht schlecht. Joe, du machst dich. Gutes Bild. So, und wer wohnt jetzt hier alles? Schmidt, Hommelsen, Düker, Martin, Posch, Kratzberger.“ Sie sah auf die Uhr. „Zehn nach fünf, da müssten die Leute doch eigentlich schon zu Hause sein. Komm, packen wir´s an.“
Mathilde sah sich kritisch in der Wohnung um, als sie von Lingua zurückkam. Noch kaum besser, das musste man sagen – aber immerhin hatte sie doch schon mal einen Anfang gemacht. Vielleicht konnte sie morgen noch etwas in der Lesefabrik und bei Ronny vorbeibringen? Um elf hatte sie eine Besprechung mit ihrem Doktorvater, davor konnte sie durchaus noch einiges regeln. Und vielleicht auch einiges von Tante Annis Klamotten aussortieren. Vielleicht konnte sie davon sogar etwas brauchen? Tante Anni war zwar einen halben Kopf kleiner und dafür bestimmt fünfzehn Kilo schwerer gewesen, aber manches war ja eher größenunabhängig.
Strohhüte zum Beispiel, spottete sie über sich selbst. Wahnsinnig wesentlich.
Na, später.
Zunächst war wohl die Dissertation ein bisschen wichtiger. Mathilde kramte durch ihre Kopien und fand noch etwas Interessantes: Stimmte ja, die Fakten über Walter Simms wollte sie noch einarbeiten. Schließlich war es mühsam genug gewesen, das alles zusammenzutragen.
Walter Simms hatte in Heidelberg (bis 1932) und in Oxford studiert (bis 1934), dann als Journalist in London gearbeitet und als politischer Korrespondent in Madrid, erlebte den Kriegsausbruch 1936 live mit, kämpfte gegen die Falange und wäre beinahe noch in Kriegsgefangenschaft geraten. Er hatte Hemingway getroffen und später Paris beim Einmarsch der Deutschen so fluchtartig verlassen, dass man sich an Casablanca erinnert fühlte. Nur die Fluchtrichtung war eine andere. Von ihm gab es etwa zehn Kurzgeschichten, die aber zum Teil erst lange nach Kriegsende entstanden waren, was ihre Bewertung etwas problematisch machte.
Genau das aber wollte Mathilde versuchen und daraus eine grundsätzliche Frage machen – wie brauchbar waren solche im Nachhinein entstandenen Texte? Als Quelle? Als Beleg für die Rezeptionsgeschichte? Als etwas anderes? Sie schrieb etwa eine Stunde genussreich vor sich hin, wühlte nach den passenden Belegen, fügte sie ein, las sich befriedigt durch, was sie da gebastelt hatte, ließ alle Fußnoten neu nummerieren und fand dann, sie habe eine kleine Aufräumpause verdient.
Aber wo sollte sie anfangen?
Geschirr, beschloss sie. Wenn sie noch ein Service fand… da wurde doch wirklich ordentlich Platz frei! In manche Schränke hatte sie beim Einzug nur flüchtig geschaut – aha, voll, also nicht verwendbar – da konnten ja noch Schnäppchen auftauchen.
Sie arbeitete sich langsam durch alle Oberschränke, freute sich an den beiden, die schon leer waren, entdeckte einige Überreste von unechtem Zwiebelmuster – weniger interessant – und einen Satz Gläser, die die Spülmaschine nicht vertragen hatten. Die warf sie gleich weg; bei Gelegenheit holte sie sich eben mal einen Satz klare Gläser im Kaufhaus. Oder wenn mal jemand zu IKEA fuhr…
Zu einer Sammlung einzelner Kuchenteller fiel ihr nichts ein – auf der Rückseite stand auch nichts Verheißungsvolles.
Mathilde verlor die Lust und schaute lieber in den Hochschrank hinter der Küchentür. Bei ihrem Glück gab es dort wahrscheinlich eine Sammlung abgenudelter Reisigbesen…
Nein, besser!
Sie zog die Tür auf und prallte zurück: Tatsächlich noch mehr Geschirr! Weiß mit dunkelrotem Rand, stark verschnörkelt, offenbar auch für zwölf Personen.
Wenn sie diesen Kram morgen wieder zu Ronny schleifte, traf den wahrscheinlich der Schlag. Aber den ganzen Schrank leer zu kriegen… man könnte ihn gründlich putzen und dann in aller Ruhe überlegen, was da hinein kommen sollte… verlockender Gedanke. Außerdem war das Geschirr ziemlich scheußlich, fand sie. Irgendwie klobig in der Form. Nicht ihr Geschmack.
Sie holte sich einen der vielen Körbe aus der Abstellkammer (die war irgendwann auch einmal fällig!), schlug einen Essteller und eine Suppentasse in Zeitungspapier ein und packte beides in den Korb. Erst einmal nachfragen, vielleicht wollte Ronny den Kram ja gar nicht haben…
Im untersten Fach dieses großen Schranks entdeckte sie noch ein silbernes Teeset – Kanne, Milchkännchen, Zuckerdose, Zuckerzange, Tablett. So etwas brauchte sie doch nie! Das konnte auch zu Ronny. Sie wickelte alles in Papier ein und packte es zu den beiden Musterstücken.
Dann fischte sie noch dreißig Heftchenromane und zwanzig Hardcoverschinken aus Tante Annis Regalen, stapelte alles in einen weiteren Korb und schaute mal spaßeshalber in einen der Unterschränke im Wohnzimmer: stapelweise Zeitschriften. Solche mit Schnittmustern. Aus den siebziger und achtziger Jahren - einen gewissen Retro-Charme hatten sie ja, aber brauchen konnte man davon auch nichts mehr. Mathilde wählte zwei besonders lustige Titelbilder aus, legte diese Hefte beiseite und stopfte alles Übrige in mehrere große Mülltüten. Hoffentlich war im Papiercontainer noch genügend Platz?
Ja, so gerade noch.
Erschöpft kehrte sie in die Wohnung zurück und schloss nachdrücklich alle offenen Schranktüren: Für heute reichte es, und wenn tatsächlich bald die beiden von der Kripo kamen, sollte es hier nicht aussehen, als habe sie nur auf den Tod der Nonna gewartet, um die Wohnung ausschlachten zu können. Noch verdächtiger musste sie sich wirklich nicht machen!
Kaum hatte sie die Wohnung wieder in einen Zustand versetzt, als habe sie noch kaum etwas angerührt, klingelte es tatsächlich. Sie ließ Malzahn und Schönberger ein, führte sie in das immer noch vollgestopfte Wohnzimmer und wies auf die Sofas.
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