„Äh – nein. Was ist denn passiert? Es ist doch einem von den Kindern nicht etwa etwas zugestoßen? Obwohl, Kinder sind sie mittlerweile wohl auch nicht mehr… lassen Sie mich kurz nachrechnen… die Jüngste müsste mittlerweile auch schon Mitte dreißig sein, nicht wahr? Was ist denn also passiert?“
„Zunächst haben die Kinder Ihrer verstorbenen Schwester ihr Elternhaus verkauft.“
„Oh.“ Wiesinger wirkte tatsächlich leicht erschrocken. „Nun, das ist sozusagen das Ende einer Ära, nicht wahr? Aber vielleicht auch verständlich. Ich erinnere mich noch an das Häuschen – malerisch, aber schon sehr, sehr klein und eng. Vielleicht auch nicht mehr ganz auf dem heutigen Stand der Technik, und die jüngere Generation hat da vielleicht höhere Ansprüche als wir seinerzeit…“
Was sollte der Quatsch denn bedeuten, überlegte Maggie erbost, während sie tippte. Damals waren höhere Ansprüche doch wohl auch nicht notwendig – für zwei Fernsehprogramme und ein orangefarbenes Telefon von der Post brauchte man ja schließlich nicht viel Stand der Technik…
„Mag sein“, antwortete Felix und lächelte freundlich. „Deshalb ist es wohl auch logisch, dass das Häuschen keinen Liebhaber gefunden hat, sondern abgeräumt werden musste. Und möchten Sie raten, was beim Abriss entdeckt wurde?“
Wiesinger runzelte die Stirn, dann lächelte er etwas krampfhaft. „Hoffentlich nur allerlei Sperrmüll und nicht etwa Altlasten? Kontaminierter Boden? Aber woher auch, ich gehe doch nicht davon aus, dass Gabi und Hanshelmut dort chemische Experimente durchgeführt und die Produkte einfach weggeschüttet haben? So etwas gibt es wirklich, ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen… beim Bau der Umgehungsstraße im nördlichen Waldstetten zum Beispiel haben wir -“
„Nein, um eine Verseuchung des Bodens geht es uns nicht. Herr Wiesinger, wir sind von der Mordkommission, nicht von einer Umweltbehörde. Beim Ausgraben der – etwas vorsintflutlichen – Fundamente sind die Bauarbeiter auf menschliche Überreste gestoßen.“ Felix ließ dies erst einmal wirken und beobachtete, wie Wiesingers Gesicht von Verständnislosigkeit über Unglauben zu Entsetzen wechselte.
„Ü-überreste?“, stotterte er schließlich. „Aber – Gabi und Hanshelmut sind doch bei diesem F-flugzeugabsturz - ? Wer sollte das denn sein?“
„Deshalb sind wir ja zu Ihnen gekommen. Herr Wiesinger, Sie haben doch auch einmal in diesem Häuschen gewohnt, nicht wahr?“
„Was? Ach – nun ja, schon – aber das ist doch Jahrzehnte her! Das war, lassen Sie mich nachdenken, 1972. Das ist länger als vierzig Jahre her, so alt können die Überreste doch wohl nicht sein?“
„Warum nicht? Ein Skelett kann sich Jahrhunderte halten“, warf Maggie ein, die bisher nur mitgeschrieben hatte. „Oder noch länger, wenn man an diese keltischen Funde hier in der Gegend denkt.“
„Und das könnte es nicht sein?“ Wiesinger war offenbar bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen.
„Nein. Kleidungsreste sprechen doch eindeutig für das zwanzigste Jahrhundert“, behauptete Felix, ohne rot zu werden.
„Und aus der Nazizeit kann die Leiche auch nicht stammen?“ Wiesinger schien nur das Bestreben zu kennen, das Skelett irgendjemand anderem zuzuschieben. Felix schüttelte den Kopf. „Wir wissen noch nicht, ob das Skelett etwas mit Ihnen zu tun haben kann -“
„Das verbitte ich mir!“
„- aber wir möchten von Ihnen vorläufig auch nur wissen, was Sie uns über diese kurzlebige WG sagen können.“
Wiesinger lehnte sich zurück, sichtlich erleichtert, und legte die Hände betont entspannt zur Merkel-Raute zusammen. „Ach so… wie gesagt, 1972 bis Anfang1973. Wer hat denn dort alles gewohnt… viel Platz war ja nicht, deshalb habe ich mich auch ziemlich bald davongemacht. Lieber ins Studentenheim, dachte ich mir damals.“
Felix räusperte sich mahnend.
„Ach ja, also, Gabi und Hanshelmut waren natürlich dort, aber ich denke mal, deren Daten haben Sie sowieso – außerdem sind beide ja tot. Und dann – hm, wie hieß denn die mit den roten Locken… die Gisa war das. Gisela, genau!“
„Und wie noch?“, fragte Maggie, ohne den Blick vom Tablet zu heben.
„Hui! Also, wer sagt denn, dass sie nach vierzig Jahren noch so heißt?“
„Wenn sie in den Achtzigern geheiratet hat, hat sie sich vielleicht so einen schicken Doppelnamen zugelegt.“
„Irgendwas Unfriedliches… Streiter – nein: Zänker! Gisa Zänker. Sie hat Romanistik studiert, glaube ich. Oder Kunstgeschichte? Germanistik?“
„Wer noch?“
„Ja… der Wolfi natürlich, den habe ich sogar mitgebracht, weil er bei seinen Eltern rausgeflogen war. Wolfgang Brunnhauser. Journalist wollte er werden… komisch, was einem da alles wieder einfällt! Und er hat dauernd die lauteste Musik gehört, Neil Sedaka, Elton John, Jackson Five… ganz gute Sachen eigentlich. Heute ist er, glaube ich, bei einem Musiksender und gräbt da alte Schätzchen aus. Oder so ähnlich. Ich bin vor Jahren mal im Autoradio über ihn gestolpert, sozusagen.“
„Mehr Leute haben nicht dort gewohnt?“
Wiesinger schenkte Maggie einen nachsichtigen Blick, der sie sofort gegen ihn einnahm. „Haben Sie das Häuschen mal gesehen? Mit fünf Leuten ist es – war es – völlig überbesetzt.“
„Die Familie Möbius war doch sogar zu sechst?“
„Stimmt. Die Kinder können einem nur leidtun.“
„Sie scheinen es ganz gut überstanden zu haben“, schnappte Felix. „Außer Ihnen, Frau Zänker und Herrn Brunnhauser wohnte also niemand dort, vom Ehepaar Möbius einmal abgesehen?“
„Stimmt.“ Wiesinger klang mürrisch.
„Und wie würden Sie es einschätzen, hatten die Möbius eher eine richtige Kommune im Auge, alternative Wohnformen oder so etwas – oder wollten sie einfach an der Miete ein bisschen verdienen?“
Dass man ihn um sein Urteil bat, schien dem Herrn Stadtrat schon besser zu gefallen.
„Eine Mischung von beiden, denke ich“, sagte er nach einigem Nachdenken. „Einerseits waren Gabi und Hanshelmut wohl doch zu bürgerlich, um an etwas wie die Kommune 1 – das meinten Sie doch, oder? – zu denken. Andererseits waren wir damals alle erst knapp volljährig, einundzwanzig oder zweiundzwanzig und natürlich recht spaßorientiert. Meistens aber beschränkte sich der Spaß darauf, zu viel Bier zu trinken und hinterher zu zanken, wer die Flaschen wegbringen und neues Bier besorgen sollte. Ja, und laut Musik zu hören.“ Er grinste. „Manchmal riefen die Nachbarn tatsächlich die Funkstreife, wegen des Lärms dieser - Halbstarken .“
„Ach ja? Welche Nachbarn, links oder rechts?“
„Kommt wohl auf die Perspektive an, nicht? Moment… wenn man vom Haus auf die Straße schaute, waren es die linken Nachbarn… hießen die nicht Hemmerle? Die mit dem ewig kläffenden Köter?“ Er versank in nostalgischen Gedanken.
Felix und Maggie gönnten ihm einige Minuten; die Aussage war ohnehin enttäuschend, denn gerade das Nachbarhaus zur linken Hand war ja schon abgeräumt worden. Nun, Max und Liz eruierten hoffentlich gerade die übrigen Nachbarn!
„Wissen Sie denn etwas über die Nachbarn zur Rechten?“
Wiesinger warf ihnen einen nachsichtigen Blick zu. „Sind das etwa immer noch die gleichen? Ich meine, nach über vierzig Jahren?“
„Wie hießen die Nachbarn damals denn?“
„Oh… ich fürchte, das weiß ich nicht mehr… oder doch… Moment: Irgendwas mit R… Pichler, genau! Nein, Pichl. Pichler? Doch Pichler, ja, ich bin sicher.“
Felix betrachtete ihn etwas misstrauisch: so viel Gestammel?
„Vielen Dank“, sagte er dann nur höflich. „Wie würden Sie Frau Zänker denn beschreiben?“
„Frau Zän- ach so, die Gisa! Die Gisa… sie war immer lustig und auf Spaß aus. Abends war sie eigentlich immer unterwegs, in den Tanzschuppen am Herzog-Roderich-Platz…“ Er bemerkte Maggies Blick und lächelte väterlich. „Ein Tanz- oder Beatschuppen war das, was man später als Disco bezeichnete. Meine Töchter heute würden wohl Club sagen.“
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