1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 „Ach ja, Willi hat so etwas mal erzählt. Das war aber noch, bevor die Kinder überhaupt auf der Welt waren. Mehr weiß ich darüber auch nicht.“
„Haben die Eltern bei diesen Kaffeeeinladungen nicht von damals erzählt?“, erkundigte sich Maggie.
„Nein, eigentlich nie. Genau, der Willi hat mal gefragt, wie sie eigentlich vier oder fünf erwachsene Leute in dieser Enge untergebracht haben, und da waren sie ganz schön zugeknöpft. Seine Mama hat nur gesagt, sie und der Papa hätten sich ja ein Zimmer geteilt, also hätte es noch drei Zimmer gegeben. Und dann hat der Papa gefragt, ob wir mit dem Abzahlen von dem hier“ – ausladende Handbewegung – „zurechtkommen. Ja, und bis wir alle mit den Diskussionen über Zinssätze, Bausparverträge, Tilgungsraten und so weiter fertig waren, hatte der Willi seine Frage wohl auch längst vergessen. Oder es war ihm eigentlich auch egal.“ Sie überlegte einen Moment, dann seufzte sie. „Wenn die beiden nicht verunglückt wären, sondern noch sehr lange weiter gelebt hätten, hätten sie wahrscheinlich eh in ein Betreutes Wohnen müssen – die Hütte war ja sowas von überhaupt nicht behinderten- oder auch bloß seniorengerecht. Diese Hühnerleiter nach oben, die schäbige Badewanne ohne Haltegriffe… und eine vorsintflutliche Ölheizung. Mehr so eine Art Ölofen: Darf man das heute überhaupt noch, mit so einem Gestank?“
Max und Maggie deuteten diese Frage wohl zu Recht als rhetorisch. Die Tage der Hütte waren wohl so oder so gezählt gewesen…
Mehr schien Willis Frau auch nicht zu wissen, also verabschiedeten sie sich, nicht ohne Karten zu verteilen und weitere Besuche anzudrohen.
*
Zolling war in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen und war dabei in sehr unterschiedliche Gebiete zerfallen – zum einen die MiniCity, einige Straßen voller Firmensitze, teils architektonisch interessant (wenn auch nicht immer reizvoll), teils einfach in Leichtbauweise oder noch aus alten Behelfsbauten bestehend. Dazwischen gab es vor allem Bars (für die Mittagspausen) und einen Büroartikeldiscounter, einige Ecken weiter auch einen Supermarkt.
Rund um das alte Zollinger Schloss – heute ein Kulturzentrum, denn von der ehemaligen Herzogsfamilie wohnte niemand mehr in Leisenberg – standen etliche alte und im Allgemeinen sehr gut erhaltene Villen, vorzugsweise in Habsburger Gelb gestrichen und heute zumeist in mehrere Wohnungen aufgeteilt, denn für eine Familie waren sie einfach zu groß.
Liz sah sich begehrlich um – hier hätte sie auch wohnen mögen. Große alte Bäume um die Häuser, ordentliche Busverbindungen – und rund um den Berliner Platz, wo es zu den futuristischen Wohnblocks ging, auch alles, was man für den täglichen Bedarf brauchte. Supermarkt, Gemüseladen, Reinigung, Apotheke, Schreibwaren & Zeitschriften, Drogeriemarkt und ein guter, altmodischer Bäcker, der damit warb, dass er seine Semmeln tatsächlich noch selbst backte, statt nur Teiglinge aufzutauen. Ja, hier ließ es sich aushalten – Henriette Möbius hatte wohl klug gewählt. Und die Nähe zur MiniCity war auch nicht zu verachten.
Der runde Berliner Platz als Zentrum war von sternförmig angeordneten Straßen umgeben. „Hier ist sogar den Leisenbergern aufgefallen, dass Deutschland etwas größer ist als bloß Bayern und das Rheinland“, stellte Felix fest. Liz schaute auf ihr Tablet (gut, dass jetzt endlich jeder eins hatte, der wollte) und murmelte: „Bremer, Lübecker, Hamburger ist die dritte. Danach kommt Stuttgarter – haben die im Rathaus eigentlich keine Landkarte?“
Felix bog in die Hamburger Straße ein. „Nummer neun, oder? Das müsste das hellgraue da drüben sein…“
Neben dem zehnstöckigen Bau gab es sogar einen Gästeparkplatz neben der Tiefgarageneinfahrt. Sie parkten dort, kehrten zum Eingang zurück und stellten verblüfft fest, dass das Haus eine regelrechte Lobby aufwies – und einen Concierge, der sofort nach ihrem Begehr fragte. Sie zeigten brav ihre Ausweise vor und wurden – was ihnen nicht gefiel – bei Frau Möbius angemeldet. Mit eleganter Geste verwies der Portier dann auf den Aufzug im Hintergrund. „Siebter Stock, Appartement 702.“
„Ist das hier ein Hotel oder was?“, fragte Liz im Aufzug und Felix wies auf die Infotafel neben den Etagenknöpfen. „Die Stockwerke zwei bis vier sind ein Appartementhotel. Ja, dass sowas in der Nähe der MiniCity gut läuft, glaube ich gerne. Fünf bis acht sind kleine Appartements, neun zwei große Wohnungen, zehn ein Penthouse.“
„Und was ist im ersten Stock?“
„Küche, Frühstücksraum, Restaurant.“
„Rundumservice. Wahrscheinlich machen die einem auch noch die Wäsche?“
„Bestimmt. Für einen stolzen Preis natürlich. Ob das das Wohnen der Zukunft ist?“
„Na, Singlewohnungen sind zunehmend mehr gefragt. Alleine schon mal die ganzen Alten, deren Männer tot und deren Kinder sonst wo sind. Da ist ein Appartement mit Service doch eine ordentliche Option.“
„Sozusagen eine Vorform von Betreutem Wohnen?“
Die Aufzugtüren öffneten sich lautlos auf einen großzügigen, aber extrem nüchtern gestalteten Flur – grauer Hartholzboden, weiße Wände, solide graue Wohnungstüren.
Nummer 702 war gleich um die Ecke des Aufzugs; Liz klingelte und sah Felix an. „Jetzt bin ich mal gespannt, wie futuristisch es da zugeht…“
Die Tür öffnete sich so weit, wie ein Sperrriegel es zuließ. „Ja?“
„Frau Möbius? Kripo Leisenberg.“ Während sie noch die Ausweise vor den Türspalt hielten, wurde der Riegel gelöst und die Tür schwang auf.
Felix marschierte einfach hinein, Liz folgte langsamer, weil sie sich gierig umsah. Aha, Einbauschrank im Flur. Fast unsichtbar, nicht schlecht. Kurzer Gang, Badezimmertür, dann Zimmer. Felix nahm gerade Platz, auf einem schwarzen Lederhocker.
„Wollen Sie sich nicht auch setzen, Frau - ?“
„Zimmerl“, antwortete Liz abwesend. „Ja, danke – welche Funktion hat diese Säule mitten im Raum?“
Frau Möbius grinste. „Die ist scharf, was? Das ist die Multimediaeinheit. Fernseher, Streaming-Stick, eBook-Reader, ein paar Bücher, ein, zwei Leitzordner, Tablet, Kamera… eigentlich ist da alles drin, außer dem Rechner, der steht da drüben.“
Auf dem schmalen Tisch an der linken Wand sah man einen Laptop, der auch als Tablet nutzbar war.
„Schickes Gerät“, hauchte Liz mit deutlichem Neid in der Stimme.
„Ja, finde ich auch. Eigentlich braucht man sonst gar nicht so viel. Ich hab schon überlegt, ob der Fernseher überhaupt notwendig ist, aber ganz ehrlich, der Rechnerbildschirm ist mir zu klein. Ich lümmele lieber auf dem Sofa, wenn ich mir was anschaue.“
Sofa… schwarzes Leder mit Knopfpolsterung, eher eine Art Recamière, bestimmt zwei Meter mal einsfünfzig. Dieses edle Teil, die zwei Lederhocker und ein kleiner Olivenholztisch dazwischen waren außer dem schmalen Tisch an der Wand (ebenfalls Olivenholz) die einzigen Möbel im Raum – und einen anderen Raum gab es hier nicht.
„Schlafen Sie dort auch?“
„Sicher. Superbequem.“ Henriette Möbius hob das Fußende an und präsentierte ein Fach, in dem eine saubere Bettzeugrolle lag. „Alles griffbereit.“
„Toll!“ Liz´ Lob kam aus ehrlichem Herzen, Felix räusperte sich mahnend. Liz setzte sich auf den zweiten Hocker und versuchte vergeblich, sich auf die Möbius zu konzentrieren und nicht auf die Küchenzeile, auf die sie jetzt freien Blick hatte.
Schöne Küche. Sehr kompakt, blassgrau und perfekt aufgeräumt. Da gab es garantiert nicht irgendwelchen alten Kram ganz hinten in den Schränken-
„Liz?“
Sie nahm sich zusammen und weckte das Tablet auf. „Alles klar!“
„Frau Möbius, wie gut kennen Sie sich in Ihrer Familiengeschichte aus?“
„Schon ganz gut, denke ich. Ist das nicht in den meisten Familien so, dass ein weibliches Wesen für so etwas zuständig ist, die Adressen parat hat, weiß, wie die Kinder der Cousine zweiten Grades heißen und all sowas? Was möchten Sie denn wissen?“
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