Wie lange würde es dauern, bis meinen Eltern so etwas auffiele? Wochen, wahrscheinlich. Papa würde die Achseln zucken, wenn ich verschwunden war. Und Mama würde sich nicht trauen, ohne Papas Genehmigung die Polizei zu verständigen. Philipp würde schließlich sagen Spinnt ihr? Natürlich melden wir Isi als vermisst, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Zu diesem Zeitpunkt hätten Edgar und Dr. Weinzierl, der Wirtschaftsprüfer, sich aber schon längst gewundert. Und Sandra natürlich. Petra nicht, die würde höchstens denken, dass ich verreist sei und sie es nur vergessen habe.
Ich konnte also auch schon ziemlich verwest sein, bevor nach mir gesucht würde. Unerfreuliche Vorstellung! Schützte einen eine feste Beziehung vor so etwas? Und was, wenn der treusorgende Ehemann auf Geschäftsreise war?
Warum war so ein hübsches Kerlchen aber so alleine, dass ihn keiner vermisste? Konnte man davon ausgehen, dass er alleine gewohnt hatte und nicht etwa in einer WG, wenn es so lange dauerte, bis einer nach ihm suchte?
Himmel, WG! Jetzt wusste ich, an wen mich die Beschreibung erinnerte! Thilo sah genauso aus – was, wenn das Thilo war, und Olaf und Hubi mal wieder träge herumhingen, anstatt etwas zu unternehmen?
Ich rannte nach nebenan und klingelte Sturm. Hubi riss die Tür auf und knurrte. „Was ist jetzt wieder? Wir haben weder die Musik zu laut noch qualmen wir was Illegales. Was willst du jetzt wieder?“
Äh, ja. Wie sagte ich das jetzt am besten? „Ist Thilo da?“
„Nö.“
Sehr verdächtig! „Und, wo ist er?“
„Weiß ich doch nicht. Stehst du jetzt auf den? Vergiss es, der mag junges Gemüse, und so frisch bist du auch nicht mehr.“
Hubis spezieller Charme weckte wie immer in mir den Wunsch, ihm eins überzubraten, vorzugsweise mit einem Pflasterstein. Hinter ihm tauchte Olaf auf, wie üblich halbnackt und mit dem ebenfalls üblichen trägen Lächeln. „Welch Glanz an unserer Tür! Was können wir für dich tun, schöne Frau?“
„Schmierlappen“, blaffte ich. „Ich will bloß wissen, wo Thilo ist!“
„ Thilo ?“ Er zog ein enttäuschtes Gesicht. „Wieso Thilo? Ich dachte immer, meine Reize zögen dich vor unsere Tür?“
„Lass das Geschleime. Wo ist Thilo?“
„Was hat er denn jetzt wieder angestellt, unser Möchtegern-Capone?“
„Sie steht bloß auf ihn“, erläuterte Hubi und grinste breit. Boah, wie konnte man so gelbe Zähne haben! „Kaum“, antwortete ich so kalt wie möglich. „Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?“
Olaf sah mich leicht verwirrt an. „Heute morgen, beim Frühstück. Nicht, dass er direkt was gefrühstückt hätte, verkatert, wie er war, aber er war hier, eindeutig. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Wieso denn?“
„Ach, nichts“, leitete ich den Rückzug ein, halb erleichtert, halb beschämt. „Wenn er hier war, ist ja alles gut. Tschüss dann!“
Olaf rief noch: „He, warte mal, was sollte das jetzt?“, aber ich verschwand schnell wieder in meiner Wohnung. Machte ich mich hier zum Affen, bloß weil die Beschreibung notdürftig auf einen dieser drei Neandertaler passte? Und hatte Thilo nicht überhaupt mehr so grüne Augen?
Der Ordnung halber schnitt ich den heutigen Artikel auch aus und legte ihn zu den anderen, nahm mir aber vor, morgen weder eine Zeitung zu kaufen noch über diesen Quatsch nachzudenken. Stattdessen würde ich an der Arbeit weiterbasteln, jawohl! Weit kam ich nicht, bevor Petra anrief, voller Entrüstung: Uli hatte sich mit ihr gekracht, bloß weil sie vergessen hatte, irgendeinen blöden Brief einzuwerfen!
„Und, was war das für ein Brief?“, fragte ich, durch Erfahrung gewitzt.
„Ach, was weiß ich, irgendwas mit Steuern oder so. Einspruch, gibt´s das?“
Ich seufzte. „Ja, Petra, das gibt´s, und da gibt es auch Fristen zu beachten. Jetzt muss dein Uli wohl mehr Steuern zahlen, weil du den Brief verbummelt hast. Wieso gibt er ihn auch dir, er müsste dich doch langsam kennen!“
„Mein Gott, ich hab´s ihm angeboten. Ich hab´s doch nur gut gemeint. Kann ich ahnen, dass es so ernst gemeint ist, wenn er sagt Ja nicht vergessen ? Da, wo ich dachte, war gar kein Briefkasten mehr, aber ein super neuer Laden, und da hab ich´s eben vergessen. Kann doch mal passieren!“
„Was für ein Laden?“ Ich tippte auf Schuhe – manchmal war Petra wirklich ein wandelndes Klischee.
„Taschen und so. Supersachen. Gut, Fakes, aber ziemlich täuschend. Ich hab mir da ein Chaneltäschchen gekauft, also, du glaubst es nicht, schaut total echt aus, richtig nobel. Und nur neunundvierzig Euro! Da musst du unbedingt auch mal hinschauen, Peutinger Ecke Fuggergasse. Oder da in der Gegend eben.“ Ich seufzte wieder. „Petra, erstens stoßen die Peutinger und die Fuggergasse gar nicht zusammen, da kann´s keine Ecke geben. Und zweitens ist es illegal, Fälschungen zu verkaufen, den Laden wird´s wohl nicht lange geben.“
„Du hörst dich so besserwisserisch an, du könntest glatt Lehrerin sein. Wie dieser doofe Kumpel von meinem doofen Bruder.“
„Nie gehört.“
„Ach, den kennt er noch von der Schule her, so ein großer dunkler Finsterling. Julian Schießmichtot. Der und seine Freundin waren am Samstag bei Paul zu Besuch, na, und ich hab kurz vorbeigeschaut, weil ich kein Geld mehr hatte, und da hat dieser Julian oder Julius oder wie auch immer gefragt, wieso ich zu Paul komme, wenn ich kein Geld mehr habe, stell dir vor!“
„Gute Frage. Das würde mich jetzt aber auch interessieren. Ich gehe in solchen Fällen ja eher zum Geldautomaten, aber ein Bruder – auch eine Möglichkeit. Hast du dir was gepumpt?“
„Musste ich doch, Mensch!“
„Wieso, bist du pleite?“ Ein grässlicher Gedanke beschlich mich. „Haben Sie dich bei Crommer rausgeschmissen?“
„Ja, das auch“, antwortete sie ungeduldig, „aber darum geht´s jetzt doch gar nicht! Der blöde Automat hat meine Karte gefressen, stell dir vor! Frechheit, was? Da musste ich doch zu Paul gehen!“
Da war Paul bestimmt sehr froh.
„Wieso hat der Automat deine Karte gefressen? Und wieso haben sie dich bei Crommer rausgeworfen? Warst du schon beim Arbeitsamt? Oder bei JobTime ? Hast du schon was Neues in Aussicht?“
„Isi, nerv nicht rum. Wieso der Automat meine Karte gefressen hat, weiß ich auch nicht. Irgendwas von Guthaben und Berater, dann war der Schirm wieder dunkel. So schnell kann man gar nicht gucken!“
„Vielleicht ist dein Konto überzogen?“
„Mein Konto ist schon seit Jahren überzogen, wieso sollten die sich jetzt plötzlich darüber aufregen?“
„Vielleicht, weil du keinen Job mehr hast?“
„Mein Gott, ich find schon wieder was, die sollen sich nicht so haben! Aber darum geht´s jetzt doch gar nicht!“
Fand ich eigentlich schon. War Petra nicht beinahe zu beneiden, weil sie sogar für Existenzsorgen zu dumm war? Nein, nicht wirklich dumm, aber so was von schusselig... „Worum geht es denn dann? Ich find´s schon irgendwie bedenklich, wenn du deinen Job verloren hast – du nicht?“
„Ach was! Aber stell dir vor, dieser Julius -“
„Julian.“
„Was?“
„Vorhin hast du gesagt, Julian. Ist das schon Alzheimer?“
„Herrgott! Gut, dieser Julian schlägt mir doch glatt vor, einen Kurs zu machen, in Selbstmanagement oder so. Wie findest du das? Ist das nicht eine Frechheit? Als ob ich so´ne blöde Firma wäre!“
„Wenn du so´ne blöde Firma wärst, wärst du längst bankrott. Kein Kunde hätte jemals das Richtige oder überhaupt was geliefert gekriegt. Und wenn, hättest du total verschusselt, eine Rechnung zu stellen.“ Mittlerweile konnte ich meine Erheiterung nicht mehr verbergen.
„Lach nicht so blöd“, schimpfte Petra sofort. „Was geht das diesen Kerl an? Und überhaupt, als ob ich meinen Kram nicht im Griff hätte!“
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