Unlustig machte ich mich nun doch wieder an das Referat-Handout, aber als es so ungefähr stand, war es mit dem letzten Rest Motivation auch wieder vorbei und ich fiel in mein ungemachtes Bett. Morgen musste ich unbedingt mal was in der Wohnung tun, überlegte ich im Halbschlaf. Wenn Papa mich das nächste Mal verächtlich ansah, wollte ich mich wenigstens im Stillen mit dem Gedanken trösten können, dass ich mein Leben im Griff hatte.
Aber seine Achtung zu erwerben – das sollte ich mir besser ein für allemal abschminken. Wenn ich jemanden nicht leiden konnte, konnte er ja auch anstellen, was er wollte, und ich war nicht zu beeindrucken. Warum sollte es Papa anders gehen?
Die Sache mit der Selbstachtung beschäftigte mich am nächsten Morgen aber noch, so dass ich mit ganz ungekanntem Eifer das Handout fertig machte und tippte, abspülte, aufräumte, das Bett frisch bezog und die Wohnung einmal durchsaugte. Ich schaffte es sogar noch, meine Wäsche im Keller in die Maschine zu stopfen und sie hinterher im Schlafzimmer aufzuhängen, bevor ich in der Unibibliothek auf die Jagd nach dieser verschwundenen Quelle ging und mir dann die bestellten Bücher abholte.
Die Quelle hatte ich zwar nicht gefunden, aber möglicherweise eine Spur, tröstete ich mich, als ich mit einer großen Tüte Bücher und einer nicht minder großen Tüte Einkäufe nach Hause kam und alles zu verräumen begann. Wenn ich jetzt noch bügelte... Nein, man konnte den Eifer auch übertreiben, und außerdem musste ich langsam wieder zurück, in die Vorlesung. Der Roman des Realismus im europäischen Kontext – naja. Aber manches war ganz interessant, und der Professor konnte wenigstens interpretieren. Und danach hatte ich gerade noch zwei Stunden Zeit, weiter nach der Quelle zu forschen, bevor ich Schreibtischdienst machen musste.
Die Vorlesung war rappelvoll, kein Wunder in der zweiten Sitzung, und ich klemmte mich resigniert auf einen Notsitz und schlug meinen Spiralblock auf. Niemand in Reichweite, den ich kannte – hatten wir früher auch gar so jung und unreif ausgesehen? Allmählich kam ich mir richtig alt vor!
Der Professor pflegte eine zehnminütige Pause nach der Halbzeit einzulegen (wahrscheinlich war er selbst Raucher) und alle Süchtlinge stürzten runter auf die Katharinenstraße: lieber frieren als verzichten!
Ich war ja auch nicht besser, und als ich mit zitternden Fingern mein offenbar leeres Feuerzeug betätigte, kam mir ein besser funktionierendes dazwischen.
„Danke“, sagte ich nach einem kräftigen Zug und betrachtete mir den edlen Spender. Nett. „Ich heiße Jochen“, stellte er sich vor. Groß, schmal, Brasilien-Sweatjacke, Jeans, Sneakers. Gutes Gesicht, dunkelblondes Haar und freundliche braune Augen.
„Isi“, antwortete ich. „Die Vorlesung ist nicht schlecht, was?“
„Ja...“ Das kam etwas zögernd. „Ich weiß nicht recht, ich hab, glaube ich, nicht alles verstanden. Ich bin erst im zweiten Semester, und so toll war bei uns der Deutsch-LK nicht. In welchem Semester bist du?“
Ich rechnete kurz nach. „Wahrscheinlich im achtzehnten“, sagte ich dann. „Ich promoviere gerade. Naja, wenn ich die Diss. jemals fertig kriege.“ Er guckte erschrocken und ich bereute meine Worte. Wieso hatte ich nicht gesagt, siebtes Semester oder so? Dann hätte er mich für klug gehalten statt für uralt, und ein Bierchen und vielleicht ein kleiner Flirt wären drin gewesen. Aber so? So sah er sich nervös um und meinte dann mit künstlichem Auflachen: „Ich glaube, es geht gleich wieder weiter. Also, man sieht sich!“
Jaja. Nicht wenn du es vermeiden kannst, was? Ich folgte den Massen die Treppe wieder hinauf, ergatterte wieder meinen Klappsitz und sah von weitem, wie dieser Jochen seinen Kumpels etwas erzählte und dabei nicht gerade unauffällig in meine Richtung wies. Mensch, Leute, ich hab grade eine getroffen, die muss schon fast dreißig sein! Dass der das nicht peinlich ist?
Ich sollte wirklich endlich fertig werden, es wurde mir tatsächlich langsam peinlich – als säße ich als Abiturientin wieder im Kindergarten.
Aber die Vorlesung war gut, und als wir getrampelt und geklopft hatten, sauste ich sofort wieder in die Bibliothek, um dem Erwachsenenleben wenigstens ein bisschen näher zu kommen. So viel Eifer wurde auch sofort belohnt, nicht mit der gesuchten Quelle (die einzige Sammlung, in der sie stehen sollte, war ausgeliehen und musste vorbestellt werden), aber mit einer anderen, die ich erstaunlich gut brauchen konnte. Ich bestellte, kopierte, lieh aus und zog schließlich sehr zufrieden weiter in die Graf-Rasso-Straße, um bei EventMachine meinen Dienst zu leisten.
Dort traf ich auf wilde Hektik, weil offenbar zwei Partys, ein Konzert und eine große Werbeveranstaltung zeitlich zusammengetroffen waren. Da ich mit den Veranstaltungen selbst nichts zu tun hatte, begnügte ich mich damit, Platz zu machen, damit die Kühlboxen und Materialkisten ohne Unfall nach draußen in die knallroten Lieferwagen geschleift werden konnten. Dann verzog ich mich ins Büro, wo ich zweimal die Woche Hilfsdienste leistete – aufräumen, abheften, Quittungen zusammensuchen, Telefonnotdienst leisten. Es sah mal wieder aus, als sei ein Tornado hindurchgefegt, kein Wunder - wenn alle wussten, dass montags und donnerstags eine Dumme kam, um wieder aufzuräumen, schmissen sie an den übrigen Tagen eben alles einfach auf den Tisch.
Schlecht lebte ich nicht davon, die zahlten zehn Euro netto, und zweimal vier Stunden waren immerhin achtzig Euro die Woche, für den Alltag reichte das, und ich hatte schließlich noch so einen Job – drei Vormittage bei einem Wirtschaftsprüfer, aber nicht bei dem, bei dem Sandra arbeitete. Richtig arbeitete, musste man wohl sagen. Heute lohnte sich der Saustall wirklich! Ich setzte mich, drehte das kleine Radio halblaut auf und begann, alle Zettelchen zu sortieren, ohne auf das Geschrei auf dem Gang zu achten.
So einfach war das gar nicht. Himmel, was war da draußen eigentlich los?
„Das wird Ihnen noch Leid tun!“, schrie jemand.
„Wenn Sie im letzten Moment den Termin ändern wollen, müssen Sie nun mal mit Abstrichen rechnen, hexen können wir auch nicht“, blaffte Edgar, der Geschäftsführer, zurück. Ich konnte seinen Adamsapfel förmlich hüpfen sehen, wie immer, wenn er sich aufregte.
„Ich habe Sie drei Tage vorher verständigt! Sind Sie so unflexibel?“
„Lesen Sie mal das Kleingedruckte! Eine Woche, steht da! Eine Woche!“
„Ich bin nicht taub, verdammt! Und – ich bin Anwalt! Sie hören noch von mir!“
Draußen knallte die Tür ins Schloss, und die Bürotür ging auf.
„Puh, manche Kunden sind solche Arschlöcher, du glaubst es nicht!“ Edgar fiel auf den Besucherstuhl und zündete sich einen dünnen Zigarillo an.
„Was hat er denn?“
Er lachte auf. „Wie beim Tierarzt, was? Ach, dieser Grünne, erst will er einen feierlichen kleinen Empfang für wichtige Mandanten am Freitag, und diesen Samstag ruft er an und sagt, doch lieber am Dienstag schon. Und jetzt kann er sich die Meeresfrüchte von der Backe putzen, die werden doch nur donnerstags eingeflogen – und was sagt er? Dass er Anwalt ist! Muss ein schlechter Anwalt sein, diese Pfeife, das Kleingedruckte ist total korrekt. Na, soll er uns verklagen!“
„Dem sehen wir gelassen entgegen“, stimmte ich zu und studierte stirnrunzelnd eine etwas rätselhafte Rechnung. „Dass Anwälte einen Schlag haben, wissen wir doch aus dem Fernsehen, oder? Und im Notfall frag ich meinen Bruder, der ist auch Anwalt.“
„Mit Schlag?“
„Klar. Aber brauchbar, denke ich.“
„Na, ich sag´s dir, wenn wir ihn brauchen sollten. Aber ich wette mit dir, der verklagt uns doch nicht. Wenn er sich wieder eingekriegt hat, wird er erkennen, dass es nicht anders geht, wenn er so kurzfristig umdisponiert. Na, frohes Schaffen noch – du machst das immer sehr schön.“
Читать дальше