Ich bedankte mich artig und sortierte weiter, stellte Belege zusammen, entwarf schon einmal Rechnungen, heftete allerlei Krempel ab, goss die Blumen, wischte etwas Staub und trug allerlei Adressen und Telefonnummern ins Online-Register ein, um die Post-its wegwerfen zu können. Das Telefon schwieg hartnäckig, anscheinend klappten alle Veranstaltungen trotz der Hysterie, die vorhin noch geherrscht hatte. Wie immer eben.
Um elf verabschiedete ich mich von Edgar, der meine Stunden akribisch vermerkte, sich höflich bedankte und mir einen schönen Abend wünschte, schloss mein Fahrrad auf und strampelte nach Hause. Gut, dass ich nicht am Prinzenpark vorbei musste! Dass man da eine Leiche gefunden hatte, fand ich dann doch etwas gruselig. Was für eine Leiche überhaupt? Ich hätte den Artikel doch mal gründlich lesen sollen, tadelte ich mich selbst, während ich durch die sternenklare und verdammt kalte Nacht radelte und den Vollmond bewunderte, in dessen metallischem Licht alles etwas seltsam aussah – alle Autos silbern, alle Menschen wie blauschwarze Schatten, alle Straßenlaternen noch gelber als sonst.
Eine Frau oder ein Mann? Wen hatten sie da im Gebüsch gefunden? Ob das ein Serienkiller war, wie man sie aus dem Fernsehen kannte? Oder Krach unter Pennern? Ein Mord aus Leidenschaft? Doch gut, dass ich das Altpapier noch nicht weggeworfen hatte – und wenn ich gerade vierzig Euro verdient hatte, konnte ich auch noch mal fünfzig Cent in den MorgenExpress von morgen investieren, in der Kneipe da vorne war gerade der Zeitungsverkäufer, jedenfalls stand sein Mofa auf dem Bürgersteig.
Als ich abstieg, trat er gerade aus der Tür und war nur zu bereit, mir ein Exemplar zu verkaufen. Ich klemmte mir die Zeitung auf den Gepäckträger und fuhr mit neuem Schwung nach Hause, wo ich mir sofort einen Tee kochte und mich mit der Zeitung niederließ.
Nicht viel Neues – nur, dass es sich bis dato um einen nicht identifizierten jungen Mann handelte. Armer Kerl, er hätte doch noch so viele Jahre vor sich gehabt! Sicher, man wusste nicht, was für Jahre – Arbeitslosigkeit, Krebs, hässliche Scheidungen: aber alles zu verpassen, nur weil man einem Durchgeknallten in den Weg geraten war? Ich würde jedenfalls so bald nicht mehr in den Prinzenpark gehen, nahm ich mir vor. Höchstens tagsüber am Wochenende, da war´s ja wohl ungefährlich.
Ich schnitt den Artikel sorgfältig aus und überflog dann den Rest der Zeitung, damit sich die fünfzig Cent wenigstens gelohnt hatten; danach fischte ich die Zeitung von gestern aus dem Altpapier und schnitt auch diesen Artikel aus – das mit dem jungen Mann stand dort auch schon. Jung, ziemlich groß und schmal, rotblond. Klang irgendwie vertraut: Wen kannte ich, der so aussah? Ich ging meinen Bekanntenkreis durch, kam aber nicht drauf. Edgar war außerdem eben noch ziemlich fit gewesen, und niemand würde ihn beschreiben, ohne diesen riesigen Adamsapfel zu erwähnen. Und die Mordsnase.
Philipp (um Gottes Willen, wohin verirrten sich meine Gedanken?) war ebenfalls groß und schlank, aber seine Haare waren so dunkel wie meine, und er trieb sich nicht in öffentlichen Parks herum – bestenfalls fuhr er durch.
Trotzdem, ich wählte schnell seine Nummer, und als ein verschlafenes Grunzen ertönte, legte ich schnell wieder auf. Verflixt, schon zehn vor zwölf? Das hätte ich besser gelassen. Dafür klingelte jetzt mein Telefon. „Was sollte das eben?“, fragte Philipp verschlafen, aber unverkennbar zornig.
„Woher weißt du, dass ich das war?“, fragte ich verblüfft.
„Rufnummernanzeige, du Huhn! Warum rufst du mitten in der Nacht an und legst dann wieder auf?“
Peinlich.
„Sorry – äh...“, ich beschloss, lieber die Wahrheit zu sagen, meine Lügengeschichten hatten noch nie Abnehmer gefunden, und zu anstrengend war mir das jetzt auch. „Ich hatte nur plötzlich Angst – der Tote im Prinzenpark, sie haben ihn doch immer noch nicht identifiziert... und irgendwie kommt mir die Beschreibung doch bekannt vor. Ich wollte nur sicher sein, dass du heil und gesund im Bett liegst.“
Philipp lachte spöttisch. „Weil ich so rotblond bin, ja? Ja, ich hab das auch gelesen, man weiß ja nie, ob es nicht einen unserer halbseideneren Mandanten erwischt hat. Aber mir geht´s gut. Vielleicht einer deiner Exfreunde?“
„Alex ist kein bisschen groß und schmal“, widersprach ich.
„Und dieser – wie hieß er doch gleich? – dieser Herbert?“ Jetzt schien er endgültig wach zu sein.
„Norbert“, korrigierte ich. „Kahl geschoren.“
„Das kann sich in den letzten drei Jahren ja auch mal geändert haben.“
„Nö, den hab ich letzte Woche von weitem in der Uni gesehen. Immer noch Billardkugel. Wenn er so denkt, wie er aussieht, kann ich froh sein, dass ich ihn los bin.“
„Das gilt ja wohl für alle deine Verflossenen, oder? Schräge Truppe.“
„Genau wie deine Exmiezen“, konterte ich wütend. „Teilen die sich eigentlich eine Gehirnzelle?“
„Für meine Zwecke waren sie immer hinreichend“, antwortete er amüsiert. „Vorzeigbar und willig.“
„Dumm fickt gut, was?“ Blöder Hund, und mit so was war man nun verwandt!
„Keine Sorge, sollte ich mal ans Heiraten denken, such ich mir schon eine Gescheitere. Die Tussis amüsieren mich eben.“
„Du bist wie Papa“, behauptete ärgerlich, und das traf ihn nun wirklich: „Nimm das sofort zurück! Ich hab noch nie eine angeschnauzt, weil sie angeblich doof ist! Ich mache keinen Terror!“
„Ja, schon gut.“ Seine Erzählungen über die klugen Aussprüche seiner momentanen Bettgefährtinnen hatten mich schließlich auch schon erfreut – obwohl ich manchmal den Verdacht hatte, dass er einiges selbst erfunden hatte, so bescheuert konnte ein erwachsener Mensch nicht sein.
Das half mir jetzt aber auch nicht weiter, denn die Beschreibung erinnerte mich keinesfalls an einen meiner Verflossenen. So viele waren das außerdem auch wieder nicht gewesen, und das sagte ich Philipp auch. Er gähnte. „Schön für dich. Freu dich an deiner Tugendhaftigkeit und geh endlich ins Bett. Alleine natürlich.“
„Affe!“ Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Rotblond, groß und schlank. Verflixt, wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet, so sahen ja viele aus. Und wahrscheinlich befasste ich mich bloß damit, um der Greiffschen Verlagsbuchhandlung und ihren Raubdruckerproblemen aus dem Weg zu gehen – keine Chance, ich wollte doch endlich an diesem Unileben raus!
Entschlossen machte ich mich wieder an die Arbeit, aber um Mitternacht hatte ich auch nicht meine beste Zeit, so dass ich bald entnervt wieder aufgab.
Als ich am nächsten Abend – deutlich früher – von der Uni, der Quellenjagd und den Archivarbeiten bei dem Wirtschaftsprüfer nach Hause kam, unzufrieden, weil ich es nachgerade satt hatte, nach Stunden bezahlt zu werden, hatte ich wieder eine Zeitung in der Tasche. Hatte ich schon jemals drei Tage nacheinander Zeitung gelesen, anstatt mir die Nachrichten im Radio oder Fernsehen reinzuziehen?
Ich sank sofort auf meinen Stuhl und begann zu blättern. Da, da stand was. Keine Ermittlungsfortschritte, keine Hinweise auf einen Serientäter (mit höhnischen Kommentaren des entsprechenden Journalisten, schließlich bestritt die Polizei so etwas ja immer, auch wenn es für jeden denkenden Menschen offensichtlich war... Tatsächlich?), aber interessante Details, die im Interesse des Ermittlungsfortschritts nicht veröffentlicht werden sollten. Welcher Ermittlungsfortschritt? Handelte es sich um einen Ritualmord? Der Verfasser spekulierte munter drauflos, schien mir.
Und identifiziert hatten sie den armen Jungen auch noch nicht. Groß, schlank, rotblond, blaue Augen, regelmäßige Züge, zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, gesund... Himmel, vermisste den denn keiner? Das schien doch kein Junkie zu sein, der den Kontakt zu seiner Familie schon vor Jahren abgebrochen hatte! Der musste doch Kollegen haben, Kommilitonen, Freunde – den Eltern musste es noch nicht aufgefallen sein, dass er verschwunden war, überlegte ich.
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