„Das nützt nicht viel, fürchte ich. Heute muss jeder Bürger jederzeit durch ein amtliches Dokument seine Identität nachweisen können.“
„So wie bei einem Pass, wenn man das Land verlässt?“
„Genau. Haben Sie so etwas?“
„Nein. Ich wollte ja nicht das Land verlassen, sondern nur meine eigene Zeit. Da hielt ich es für unnötig, mir einen Pass ausstellen zu lassen.“ Stimmte ja, damals galten Pässe nur für eine Reise, nicht wie heute für zehn Jahre...
Den Bullen durfte er nicht in die Hände fallen, die würden ihn sofort in der Nervenklinik abliefern! Und mich auch, wenn ich diese wilde Geschichte bestätigte. Konnte ich überhaupt Anna, Xenia und Magnus einweihen? Die würden ihn nicht verraten, da war ich mir sicher. Mein Handy piepte, und ich holte es aus der Tasche. Unter Christophs konsterniertem Blick meldete ich mich. „Kommst du mit deiner Arbeit gut voran, Schatz?“
Ach, Sebastian! Den konnte ich jetzt wirklich nicht so gut gebrauchen.
„Nein, nicht besonders“, log ich also, „ich habe zwar zwei sehr gute Quellen gefunden, aber die sind wirklich problematisch, an denen muss ich wohl noch heute und morgen herumtüfteln.“
„Schade“, fand er, „ich dachte, wir könnten uns mal wieder schön ein Video angucken und ein bisschen kuscheln.“
Ich seufzte anstandshalber. „Das wäre mir auch lieber, aber es geht leider nicht. Ist denn Willi nicht mehr da?“
„Nein, der musste dann auch noch in die Stadt, wegen Weihnachtsgeschenken. Ich bin ganz alleine und sooo einsam!“ Ich kicherte. „Und kuscheln könntest du mit ihm auch nicht so recht. Hast du gar nichts zu arbeiten?“
„Äh – na gut, für das Repetitorium. Aber morgen Abend kannst du dir vielleicht etwas Zeit nehmen, oder?“
„Ich werde es versuchen, Schlaf gut, mein Schatz, und arbeite fleißig!“
Ich trennte die Verbindung. Christoph sah mich großäugig an. Er hatte wirklich wunderschöne Augen – oder lag das nur daran, dass er sie pausenlos erstaunt aufreißen musste?
„Halte ich Sie jetzt von Wichtigerem ab? Sie müssen noch etwas arbeiten, oder?“
„Ja, nachher, ein bisschen. Ich habe eben etwas geschwindelt, das war mein Freund.“
Er nickte. „Wie nennt man dieses Gerät?“
Ich zeigte es ihm. „Das ist ein Mobiltelefon, im Volksmund als Handy bezeichnet. Ein Telefon - wie war das gleich wieder? Ach ja – wandelt Schallwellen, also wenn jemand spricht, in elektrische Schwingungen um, transportiert diese weiter und wandelt sie am anderen Ende wieder in Schallwellen um. So kann man sich mit Menschen unterhalten, die ganz woanders sind.“
„Faszinierend. Wie weit darf man dafür entfernt sein?“
„Das ist egal, solange man sich nicht in einer Gegend befindet, wo ein so genanntes Funkloch ist. Da geht dann das Handy nicht. Im Prinzip kann ich mit jemandem telefonieren, der in Australien ist, oder in Hongkong oder in New York.“
Er schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Werde ich das noch erleben?“
„Vielleicht die allerersten Telefone. Aber Handys nicht, die kamen erst vor etwa zehn Jahren auf. Macht es Ihnen etwas aus, noch ein bisschen zu lesen? Dann kann ich wirklich etwas an dieser Arbeit tun.“
„Aber bitte, ich weiß doch, welche Belästigung das alles für Sie darstellen muss!“
„Unsinn. Ich finde das alles sehr interessant, aber die Arbeit muss nächste Woche abgeliefert werden, sonst bekomme ich den Schein, also das Zeugnis dafür nicht.“
„Interessant? Aber Sie glauben mir noch nicht so ganz, oder?“
„Naja... es kommt mir alles so unwahrscheinlich vor. Aber ich verdränge diese Frage einfach. Kann sein, Sie sind durch die Zeit gereist, kann sein, Sie haben sich das aus irgendeinem Grund ausgedacht. Ist das wichtig? Ich glaube nicht, dass Sie damit irgendwelche finsteren Zwecke verfolgen. Zu klauen gibt es hier nichts, und sonst fällt mir nichts ein.“
„Klauen – Sie meinen stehlen? Woher haben Sie dieses Rotwelsch? Das habe ich bisher nur einmal gehört, und zwar in einer ungemein zweifelhaften Taverne in Göttingen, während des Studiums. Das Bier dort war auch schlecht“, fügte er finster hinzu.
„Rotwelsch? Das sagt mittlerweile jeder. Außerdem habe ich ja gemeint, dass ich Ihnen das nicht zutraue, Sie müssen also nicht beleidigt sein.“
Er lächelte, und sein Grübchen brachte mich fast um den Verstand. Wie konnte jemand, der über zweihundert Jahre alt war, so hinreißend aussehen? Nun, er wäre heute 227, im Moment war er nur siebenundzwanzig, und ich konnte nicht umhin, Anna Christina von Herrnberg kurz zu beneiden. Ach nein, die wollte er ja nicht! „Ich bin nicht beleidigt, und ich kann es verstehen, wenn Sie meine Geschichte nicht glauben wollen. ich werde jetzt noch ein wenig dieses Buch studieren. Faszinierend, wie sich diese Industrie entwickelte! Besitzen Sie auch den Folgeband?“
Ich fischte ihm das Buch für die neunte Klasse aus dem Regal. In beiden stand peinlicherweise vorne noch der Eigentumsstempel des Lortzing-Gymnasiums – warum hatte ich die eigentlich nie abgegeben? Na gut, jetzt konnte ich darum froh sein.
Ich fuhr meinen Rechner hoch, betete, dass ich nicht erklären musste, wie ein Computer funktionierte und wozu er diente (vom Internet ganz zu schweigen), und begann, meine Notizen zu tippen, soweit sie schon einigermaßen brauchbar waren, dann las ich endlich diesen Artikel über die Schleswig-Holstein-Krise fertig und überlegte, wie ich den aufgeregten Briefwechsel kurz vor der österreichischen Kriegserklärung am besten einfügen konnte.
Zwischendurch gingen meine Gedanken immer wieder Richtung Sofa. Was sollte ich bloß mit ihm machen? Reiste er zum Schlafen in seine Zeit zurück? In ein Hotel konnte ich ihn nicht schicken, nicht ohne gültiges Geld und keinesfalls ohne Papiere. Und die Kaschemmen, die ihn ohne Ausweis aufnehmen würden, brächten ihn doch nur in Schwierigkeiten, da geriet er womöglich noch in eine Schlägerei oder Messerstecherei, und vielleicht war er ja auch bewaffnet und mischte munter mit? Seine Zeitgenossen duellierten sich doch noch? Ich hatte keine Lust, verärgerten Polizisten das Blaue vom Himmel herunter vorzulügen, um ihn wieder aus dem Knast zu holen. Wie machte das der Highlander in der Serie eigentlich? Ließ er sich falsche Papiere drucken? Und wieso kannte ich niemanden, der so etwas machte? Warum kannte ich nur nutzlose Leute? Und warum kümmerte ich mich nicht endlich wieder um die Schleswig-Holstein-Krise?
So ein Schwachsinn, ich konnte ihm doch keine falschen Papiere besorgen – spielte ich hier denn in einem schlechten Film mit? Energisch tippte ich weiter und kramte auch noch meine älteren Aufzeichnungen hervor. Da hatte ich mir ja schon eine ganz brauchbare Theorie ausgedacht, fand ich. Ich fügte sie ein, bewies sie anhand der Quellen und durch Verweise auf die neuere Forschung – wie es eben so üblich war – und fand, dass es für heute reichte. Dann druckte ich das bisher Geschaffte aus. Christoph legte sein Buch beiseite – er war tatsächlich schon bei der Reichsgründung angekommen! – und kam gucken.
„Wie von Geisterhand!“, staunte er, als der Drucker Blatt um Blatt ausspuckte.
„Wie das funktioniert, erkläre ich Ihnen morgen“, wehrte ich sofort ab, weil es mir für heute reichte. „Übrigens passt das Thema zu dem, was Sie gerade gelesen haben, es geht um den Ausbruch des preußisch-österreichischen Krieges 1866, Bismarcks Vorarbeiten zur Reichsgründung.“
„Ich kann gar nicht glauben, was ich bis jetzt gelesen habe. Es wird tatsächlich einen deutschen Nationalstaat geben?“
„Sie könnten sich das alles merken und dann zu Hause als Prophet auftreten“, flachste ich, aber er blieb ernst.
„Das glaubt mir keiner. Und dann gerate ich noch in Konflikt mit den Behörden, weil ich gegen die angestammten Herrscherhäuser agitiere. Nein, es ist wohl besser, nicht zu erzählen, was ich hier gelernt habe.“
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