„Nein, ich meine – ach, das sollte ich vor einer Dame eigentlich nicht erwähnen, verzeihen Sie bitte.“
Seine Wangen färbten sich rosa. Wie niedlich, er genierte sich! Ich grinste frech. „Ich verstehe, was Sie meinen. Aber darauf wartet doch keiner bis zur Hochzeit, warum auch?“
„Ich dachte an die Schande...“
„Welche Schande? Erstens können wir heute verhindern, dass ein Kind zur falschen Zeit kommt, und zweitens sind nichteheliche Kinder keine Schande mehr. Hier in der Stadt gibt es bestimmt genauso viele allein erziehende wie verheiratete Eltern, wobei die verheirateten nicht immer mit dem anderen Elternteil des Kindes verheiratet sein müssen.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Was sagen denn die Kirchen dazu?“
„Sie mahnen. Aber es hört ja fast keiner mehr auf sie. Möchten Sie etwas essen? Ein Stück Kuchen vielleicht?"
Er suchte sich ein Stück Teekuchen aus, vielleicht war das das einzige, was es zu seiner Zeit schon gegeben hatte. Zu seiner Zeit? Ich fing doch hoffentlich nicht an, ihm seine Geschichte abzukaufen? Sie war zwar in sich logisch, aber die Prämisse war Unsinn, denn Zeitreisen gab es nicht in der Wirklichkeit.
„Sie werden also nicht kompromittiert, wenn man uns hier sitzen sieht?“, fragte er noch einmal, als die Bedienung den Kuchen vor ihn hinstellte. „Aber nein! Mein Privatleben geht niemanden etwas an. Gut, ich habe meinem Freund erzählt, ich müsste nach Hause, um einen Essay zu schreiben. Aber das hab ich nur gesagt, weil ich ziemlich böse auf ihn war. Sollte er uns sehen, stört mich das gar nicht, er soll sich ruhig ärgern!“
„Sie sind sehr mutig, Kirsten.“
„Ich?“ Ich hätte mich fast an dem faden Tee verschluckt. „Ich bin bekannt für meine Feigheit. Ein Freund meines Freundes hat mich erst kürzlich als Fußabtreter bezeichnet. Allerdings wusste er nicht, dass ich es hören konnte.“
„Eine Unverschämtheit! Ich würde Sie nie so bezeichnen. Und mir scheint auch, dass Sie sehr durchsetzungsfähig sind.“
„Ja, weil sie mich mit den Häschen aus Ihrer Zeit vergleichen!“, murrte ich in meinen Tee.
„Häschen?“
„Eine abfällige Bezeichnung für Frauen, die sich den Männern unterwerfen.“
„Gestatten Ihnen Ihre Eltern denn diesen Lebensstil?“
„Ich bin seit sechs Jahren volljährig! Was sollten sie machen? Außerdem führe ich ein sehr braves Leben, nach heutigen Maßstäben. Ich treibe mich nicht herum, ich habe einen festen Freund, studiere fleißig und verdiene meinen Lebensunterhalt selbst. Sie sind recht zufrieden mit mir.“
„Eine komische Welt ist das. Woher kommen diese Veränderungen?“
Ich seufzte. „Ich bin zwar Historikerin, aber wenn ich Ihnen jetzt alle wichtigen Ereignisse der letzten zweihundert Jahre aufzählen sollte... Können Sie nicht einfach ein Geschichtsbuch lesen? Da steht doch dann alles drin, für Schüler, also leicht verständlich.“
„Woher bekomme ich so etwas?“
„Tja, gute Frage. Ich müsste selbst noch eins haben, aus meiner Schulzeit. Die Werke fürs Studium sind für Ihre Zwecke zu detailreich, fürchte ich. Wenn ich Sie einlade, mit zu mir zu kommen, fassen Sie das aber nicht falsch auf, oder?“
„Gewiss nicht. Sie sind doch meine Führerin durch diese bizarre Welt!“
„Nicht bizarrer als mir wahrscheinlich das Jahr 1801 erscheinen würde.“ Mittlerweile hatte ich es aufgegeben, meinen Unglauben zu signalisieren. „Kommen Sie?“
Er beobachtete interessiert, wie ich bezahlte, sagte aber nichts dazu. Draußen freilich entschuldigte er sich. „Selbstverständlich habe ich genügend Barschaft eingesteckt, bevor ich mich mit meiner Zeituhr vor das Palais Leopold begab – aber ich bin noch zu unsicher. Darf ich Ihnen den Betrag wenigstens erstatten?“
„Wenn es Ihnen Recht ist, regeln wir das zu Hause. Ich glaube nämlich nicht, dass Sie über Geld in einer gültigen Währung verfügen.“
Er fügte sich und ich staunte über mich selbst – für meine Verhältnisse schlug ich einen direkt herrischen Ton an! Sebastian und der dämliche Willi hätten mich so mal hören sollen! Wir schlenderten die Katharinenstraße entlang nach Norden, und bei jedem Auto, das an uns vorbeifuhr, zuckte er zusammen.
„Wie werden Sie genannt?“, fragte ich, auch um ihn von den Schrecknissen des Straßenverkehrs abzulenken. „Johann Christoph ist doch ein bisschen lang, oder?“
„Ich muss Ihnen zustimmen. Außerdem heißt mein jüngerer Bruder Johann Gottfried. Unsere Mutter ruft uns Christl und Friedl, aber das ist uns ein wenig unangenehm.“
„Kann ich Christoph sagen?“
Er blieb stehen und verneigte sich leicht. „Es wäre mir eine Ehre, gnädiges Fräulein.“
„Wollten Sie das mit dem Fräulein nicht lassen? Damit handeln Sie sich bei fast allen Frauen Ärger ein.“
„Es ist doch ein Ehrentitel?“
„Ja, ich weiß schon. Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen? - Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn. Das haben wir alle in der Schule gelesen.“
„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht recht folgen, Kirsten“, gestand er verlegen, „obwohl der Tonfall vertraut klingt.“
„Goethe, Faust I? Nie gelesen?“
„Nein, ich muss es gestehen. Ich habe noch nicht einmal davon gehört, obwohl sich mein Vater fast alle Neuerscheinungen senden lässt und im Familienkreis gerne darüber berichtet.“
„Oh, vielleicht ist es erst nach 1801 erschienen. Ich gucke zu Hause nach. In diesem Fall könnten Sie ja gar nichts dafür. Wie waren wir noch mal auf Faust gekommen?“
„Über die Anrede Fräulein, soweit mir erinnerlich ist.“
Ich kicherte. „Sie sprechen so hübsch. Richtig gepflegt!“
„Altmodisch, meinen Sie?“
„Naja, ein bisschen schon. Aber das ist nett, finde ich. Also Fräulein ist eine Verkleinerungsform und die Anrede für eine unverheiratete Frau – gewesen, sind Sie soweit einverstanden?“
„Eine unverheiratete Frau von Stand. Eine Bürgerstochter würde ich nicht so anreden, hier wäre wohl Jungfer oder Demoiselle am Platze.“
„Dann sollten Sie lieber Demoiselle zu mir sagen, ich bin doch nicht von Adel. Aber das interessiert heute auch keinen mehr. Zurück zum Thema – wieso komme ich heute dauernd davon ab? Also impliziert die Anrede Fräulein, dass eine Frau ohne Ehemann nur eine kleine Frau, quasi eine halbe Frau ist - und wenn das keine Unverschämtheit ist?“
„Nach der Auffassung Ihrer Zeit ganz offensichtlich. Wie werden Sie dann tituliert? Es übersteigt meine Einbildungskraft, dass Sie sich wirklich mit Demoiselle anreden lassen.“
Ich kicherte wieder und hielt ihn am Ärmel fest, damit er nicht bei Rot über die Ampel trabte. „Da haben Sie Recht. Wer mich nicht Kirsten nennen darf, sagt eben Frau Börner. Stopp jetzt! Wenn Sie unbedingt weiterlaufen wollen, können wir nachher Ihre Reste vom Asphalt kratzen. Sie sehen doch, dass da ein rotes Männchen leuchtet, oder?“
Er würde sich doch nicht überfahren lassen, nur um mir zu beweisen, dass seine alberne Zeitreisegeschichte echt war? „Doch, meine Augen sind ausgezeichnet. Wären Sie so freundlich, mir dieses Zeichen zu deuten?“
„Es will sagen, dass die Fußgänger in dieser Richtung stehen bleiben müssen, weil jetzt die Autos kreuzen.“
„Aber da kommt ja gar kein Auto!“
„Himmel, das weiß doch die Ampel nicht!“, erklärte ich ungeduldig, „Sie schaltet eben alle paar Minuten um. Schauen Sie, jetzt kommt ein grünes Männchen, jetzt dürfen wir.“
Ich musste ihn fast hinter mir herzerren, weil er sich erst auf die Straße traute, als der einsame Golf in der Katharinenstraße an der Ampel stehen geblieben war. Auf der anderen Seite deutete er auf ihn.
„Diesem Auto zeigt sich jetzt also ein rotes Symbol?“
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