„Aber nein. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn ich mich Ihnen zu einer Promenade anschließen dürfte.“
Diese gestelzte Sprache! Ich fragte mich wieder, wo sie diesen Irren losgelassen hatten – und ob ich nicht mindestens genauso irre war, mit ihm spazieren zu gehen. Was, wenn er mich irgendwo ins Gebüsch zerrte? Nein, so sah er eigentlich nicht aus. Andererseits sahen Triebtäter zwar auf den Phantomzeichnungen immer echt krank aus, wirkten in natura aber wahrscheinlich ganz normal. Trotzdem, ich hielt ihn für harmlos. Durchgedreht, aber harmlos. Vielleicht war er Schauspieler – schön genug war er dafür – und versuchte, sich in seine Rolle in einem Kostümfilm so richtig einzufühlen? Echte Stars sollten ja schon in den Knast gegangen sein, um für ihren nächsten Film zu recherchieren!
Wir spazierten wieder Richtung Parkmitte.
„Sie studieren also Geschichte?“, fragte er nun, um das Gespräch wieder aufzunehmen.
„Ja, Geschichte, Politik und Englisch, für den Magister. Nächstes Jahr müsste ich fertig sein.“
„Interessant. Dann sprechen Sie gut Englisch?“
„Natürlich. Aber das kann doch praktisch jeder, schließlich ist es in jeder Schulform Pflicht. Haben Sie es nicht in der Schule gelernt?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe vor allem die alten Sprachen studiert. Und natürlich Französisch. Englisch fand mein Lehrer nicht so wichtig, scheint es mir.“
„Ihr Lehrer? Sie hatten Hausunterricht? Dann waren Sie als Kind wohl lange krank? Ansonsten ist das, glaube ich, gar nicht mehr erlaubt. Aber ich kenne mich da nicht so aus.“
Er gab einen unbestimmten, aber vage bejahenden Laut von sich und blieb dann verblüfft stehen. „Was ist das?“
Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger, und ich atmete tief durch. „Ja, das ist eine Sünde und Schande. Unglaublich, was? Die schrecken doch vor gar nichts mehr zurück, Werbetafeln mitten im Prinzenpark, und dann noch eine so unglaublich dämliche Werbung!“
So hatte ich mich schon lange nicht mehr aufgeregt, aber mussten sie hier zwischen den Bäumen schon wieder für diese aufdringliche Versicherung werben?
„Werbung...“ murmelte er, wieder so gedankenverloren. „Wie wurde dieses Gemälde geschaffen? Es sieht ungewöhnlich lebensecht aus.“
Ich zuckte die Achseln. „Das ist doch bloß ein ganz gewöhnliches Foto. Ich glaube nicht, dass das jemand gezeichnet hat.“
„Foto...“ Er schien bestimmte Wörter zu sammeln, aber wozu? Waren das alles Begriffe, die er nicht kennen durfte, solange er so verkleidet war? Gehörte das zum Einleben in diese Rolle? Ich sah ihn vorsichtig von der Seite an, und er schien meinen etwas misstrauischen Blick zu bemerken, jedenfalls lächelte er verlegen und zeigte dabei ein ganz entzückendes Grübchen neben dem rechten Mundwinkel. Er gefiel mir, aber ich hielt ihn trotzdem für einen Spinner.
„Kirsten... Sie haben mir ja erlaubt, Sie so anzusprechen, nicht wahr?“
Ich nickte. „Mir wird allmählich auch ein wenig kalt. Gibt es hier so etwas wie ein Gasthaus oder eine Poststation? Ich würde Ihnen gerne ungestört erklären, warum ich so seltsame Fragen stelle. Wahrscheinlich werden Sie es mir nicht glauben können, weil es so unvernünftig klingt, aber ich möchte es wenigstens versuchen. Wären Sie dazu bereit oder fürchten Sie, kompromittiert zu werden?“
„Kompromittiert? Das nun wirklich nicht! Also, eine Poststation gibt es hier nicht, fürchte ich, aber gleich gegenüber dem Parkausgang in der Katharinenstraße ist ein kleines Café. Nicht besonders gut, fürchte ich, aber man kann es dort aushalten.“
„Ein Kaffeehaus? Eine vorzügliche Idee!“ Er bot mir galant den Arm. Stammte er vielleicht aus Wien? Kaffeehaus? Diese altmodische, überhöfliche Art? War das eine Sonderform des Wiener Schmähs?
Wir näherten uns dem Parkausgang und kamen schließlich zur Kreuzung Katharinen-/Graf-Tassilo-Straße. Menschenleer, es dämmerte bereits. „Wozu dienen diese bunten Lichter, und wie werden sie erzeugt?“, fragte er nun und deutete auf die rote Fußgängerampel. Respekt, der fiel wirklich nie aus der Rolle! Er müsste im Film sehr glaubhaft rüberkommen, überlegte ich mir. Sollte ich ihm jetzt ernsthaft erklären, wozu eine Ampel diente? Na, wenn es ihn glücklich machte... Ich hatte noch kaum damit angefangen – und befürchtete schon, dass ich das Prinzip der Elektrizität bestimmt nicht hinkriegen würde, daran war ich vor Urzeiten schon in einer Physik-Schulaufgabe kläglich gescheitert – als er fast einen Satz machte. „Um des lieben Himmels willen, was ist das?“
Oh, gut, er hatte daran gedacht, sich über das einzige Auto weit und breit zu wundern! Gott, musste das anstrengend sein!
„Das“, ich lächelte ihn freundlich an, um zu zeigen, dass ich bereit war, mitzuspielen, „ist ein Auto. Korrekter gesagt, ein Automobil. Das kommt teils aus dem Griechischen, von das heißt selbst, und teils aus dem Lateinischen, denn mobilis heißt beweglich. Ein Fahrzeug, das sich von selbst bewegt, oder, wie man es zur Zeit seiner Entstehung gerne nannte, eine Kutsche ohne Pferde oder eine Benzinkutsche. Zufrieden?“
Nein, natürlich nicht. „Wie kann es sich ohne Pferde bewegen?“
Himmel, war das hier etwa eine Mischung aus Versteckte Kamera und Wer wird Millionär? Einer wird ausgeschickt, um sich von harmlosen Passanten die Welt erklären zu lassen und nachher im Fernsehen die peinlichen Schnitzer zu zeigen? Ich konnte mir schon vorstellen, wer so etwas lustig fand: Annas kindliche Detektiv-Freunde – aber die mussten doch heute mit dem Standesbeamten beschäftigt sein?
Ich holte tief Luft. „Also, stark vereinfacht: Man füllt Benzin hinein, das wird irgendwie da drin verdichtet, also zusammengepresst, und dann durch einen Funken entzündet. Beim Explodieren dehnt es sich aus, drückt einen Kolben nach oben – oder was weiß ich – und dadurch entsteht Bewegung. Die wird auf die Räder übertragen und das Auto fährt.“
Er schauderte. „Gut, dass es davon nicht viele gibt!“
Ich lachte. „Wer sagt das? Hier vielleicht, am Samstagnachmittag – aber schauen Sie sich doch mal die Kirchfeldener Landstraße am Freitagmittag an – stadtauswärts, da stehen sie zu hunderten im Stau! Es gibt verdammt zu viele Autos, und sie verpesten die Luft. Aber was soll´s, jeder schimpft, aber jeder fährt.“
Ich erntete einen konsternierten Blick. „Sie führen eine recht kräftige Sprache, für eine junge Dame.“
„Tatsächlich? Was hab ich denn gesagt? Und wer sagt, dass ich eine Dame sein will?“
„Sie haben – hm – verdammt gesagt.“
„Wenn´s weiter nichts ist... Heute sind die Frauen nicht mehr so zimperlich. Und eine Dame zu sein, bedeutet nur, dass man sich tadellos benehmen muss, was keiner oder besser keine will. Apropos kräftige Sprache – kennen Sie zufällig Götz von Berlichingen, von Goethe?“
Er dachte nach. „Ja, ich glaube schon. Nicht unbedingt das Allerneueste, aber – doch, es steht in meines Vaters Bibliothek, glaube ich. Warum?“
„Nun, wenn Sie die erste, skandalträchtige Fassung haben, dann wissen Sie auch, was Götz dem Hauptmann anempfiehlt – oder stehen in ihrem Text nur drei Sternchen?“
„Sagen Sie es mir doch bitte, ich weiß es nicht mehr.“
„Nein, es ist wirklich etwas unfein. Ich zeige Ihnen bei Gelegenheit mal den Text. Kommen Sie, bei Grün dürfen wir die Straße überqueren.“
Er folgte mir, dem Auto – einem kleinen rostigen Japaner, der langsam die glitschige Straße entlang schlich – ängstlich nachblickend. „Haben Sie auch so ein – hm – Auto?“
Ich sah ihn erstaunt an. „Sicher. Hat fast jeder. Womit fahren Sie denn durch die Gegend?“
„Das erzähle ich ihnen später“, versprach er und sah sich in der Katharinenstraße neugierig um. Viel war im Dämmerlicht nicht zu sehen, hauptsächlich unbeleuchtete Schaufenster, einige finstere Kneipen, ein wildes Durcheinander alter und neuer Fassaden, hässlicher Tiefgarageneinfahrten und melancholischer Einblicke in Hinterhöfe. Dazu vergessene Mülltonnen, wie immer einige weggeworfene Verpackungen von McDonald´s, bunte Plakate an allen Flächen, die man bekleben konnte – immer direkt neben dem Schild Bekleben verboten. Tagsüber tobte hier, direkt hinter der Uni, das Leben, es war bunt und üppig – aber jetzt verströmte die Szenerie hauptsächlich Tristesse.
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