Michelle Harrison
Ein Hauch von Zauberei
Aus dem Englischen von Mareike Weber
© Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
© Michelle Harrison 2020
Aus dem Englischen von Mareike Weber
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel A Sprinkle of Sorcery bei Simon & Schuster UK Ltd, London
Lektorat: Maren Jessen, Hamburg
Coverillustration: Melissa Castrillón
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN 978-3-96177-545-3
www.WooW-Books.de
www.instagram.com/woowbooks_verlag
In liebevoller Erinnerung
an Fred Clifford, 1950–2017
Ein geborener Athlet
als ich ungefähr elf Jahre alt war, wollte ich nach einem Streit von zu Hause weglaufen. Ich trug meinen kleinen Koffer zum Haus meiner Tante und meines Onkels, die zwei Straßen weiter wohnten, und beschloss, nie wieder zurückzukehren. Nachdem meine Tante Tee gekocht und sich meine Sorgen angehört hatte, sagte sie: »Ich denke, es ist Zeit, dass wir deine Mum anrufen und ihr sagen, wo du bist, meinst du nicht?« Und eine Weile später kam Mum vorbei, um mich abzuholen.
Wenn ich heute auf dieses Erlebnis zurückblicke, muss ich schmunzeln, aber es hat mir einen Denkanstoß gegeben: Was würde jemand erleben, der weggelaufen ist, ohne genau zu wissen, wohin? Jemand, der nicht zurückkann, weil es zu gefährlich ist? Als ein fremdes Mädchen im Wildschütz auftaucht, geraten die Widdershins-Schwestern Betty, Fliss und Charlie kopfüber in ein magisches Abenteuer. Ein Abenteuer um eine geheimnisvolle Landkarte, ein verfluchtes Schiffswrack und eine alte Legende, in der womöglich mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt …
Macht euch bereit, die Schwestern auf einer Reise ins Unbekannte fern von Krähenstein zu begleiten, beschützt nur durch einen Hauch von Zauberei. Doch nehmt euch vor den Piraten in Acht!
Ein tollkühnes Leseabenteuer wünscht euch
Michelle Harrison
Es war einmal eine mächtige Hexe, die lebte am Rande einer Marsch. Ganz einsam lebte sie dort, doch sie hatte einen Gefährten: einen großen schwarzen Raben.
Jeden Tag kamen Menschen zu ihr, um ihren Beistand zu suchen, und jeden Tag half die Hexe ihnen, ohne mehr als eine kleine Geste oder einen kleinen Gefallen dafür zu verlangen. Ihr Zauber konnte vieles heilen: von kleinen Warzen bis zu großen Sorgen; von gebrochenen Fingern bis zu gebrochenen Herzen.
Eines Tages bekam sie Besuch vom Herrscher des Landes, der in Verkleidung erschien. Der Lord war ein grausamer Mann. Er hatte von der Hexe und ihrer Zauberkunst gehört und konnte es nicht ertragen, dass jemand reicher oder mächtiger sein sollte als er. Beruhigt stellte er fest, dass die Hexe alles andere als reich war, doch dann geschah etwas Unerwartetes: Der Lord begann sich in die Hexe zu verlieben. Die Hexe allerdings erwiderte seine Gefühle nicht, selbst als der Lord seine Tarnung fallen ließ und sich zu erkennen gab.
Der Lord konnte die Hexe nicht vergessen und kehrte zurück, um sie zu besuchen. Er konnte nicht verstehen, warum die Hexe seine Liebe nicht erwiderte. Erzürnt befahl er seinen Schergen, sie zu blenden. »Wenn du mich nicht sehen und lieben willst, dann sollst du niemanden sehen«, verkündete er. Doch die Männer des Königs hatten Mitleid mit ihr und ließen ihr ein Auge.
»Du kannst mir mein Auge nehmen«, sagte die Hexe zum Lord, »aber ich werde dich immer klar sehen.« Und sie verzauberte einen alten Stein mit einem Loch in der Mitte, damit dieser Hühnergott ihr als magisches Auge das verlorene ersetzte.
Als der Lord zum dritten Mal zurückkam und sich die Gefühle der Hexe für ihn noch immer nicht geändert hatten, geriet er erneut in Zorn. Dieses Mal forderte er, dass man ihr die Stimme nehmen sollte.
»Wenn du nicht sagen willst, dass du mich liebst«, donnerte er, »dann sollst du überhaupt nicht sprechen.« Und er befahl seinen Männern, ihr die Zunge aus dem Mund zu schneiden und sie in die Marsch zu werfen. Doch nachdem der Lord gegangen war, krächzte der Rabe der Hexe mit einer heiseren, knarzenden Stimme: »Du hast mir vielleicht meine Zunge genommen, aber du wirst mich nie zum Schweigen bringen.«
Bei seinem letzten Besuch sah der Lord, was er der Hexe angetan hatte, und konnte ihren Anblick nicht ertragen. »Seht, wie hässlich und seltsam sie ist!«, rief er. »Hört, wie sie durch ihren Raben spricht, diesen Todesboten! Tötet sie!«
Da beschwor die Hexe einen dichten Nebel herauf und floh in einem kleinen Holzboot durch die Marsch. Mit nichts als ihrem Hexenkessel, ihrem Raben und ihrem magischen Hühnergott ruderte sie weit aufs Meer hinaus, bis sie ein winziges Stück Land erreichte. Diese Insel, umgeben von Wasser, so weit das Auge reichte, machten die Hexe und ihr Rabe zu ihrem Zuhause.
Eine ganze Zeit lang lebten die Hexe und der Rabe dort ein einfaches und zufriedenes Leben und wurden von niemandem behelligt. Die Hexe war alt geworden und interessierte sich nicht mehr für die belanglosen Wünsche anderer.
Eines Tages jedoch wurde sie von einer Gruppe Fischer entdeckt, die durch eine launenhafte Strömung in die Nähe der Insel getrieben worden war. Die Hexe hatte Mitleid mit ihnen. Sie blies in eine große Muschel und rief einen Wind herbei, der die Fischer sicher wieder auf den Heimweg brachte. Zu Hause angekommen, erzählten die Fischer von der merkwürdigen Frau, die ihnen auf so magische Weise geholfen hatte. Es dauerte nicht lange, und all dies kam auch dem boshaften Lord zu Ohren. Er war inzwischen verheiratet und hatte die Hexe fast vergessen, aber die Geschichte der Fischer weckte seine Neugier, und er konnte nicht mehr ruhig schlafen, seit er wusste, dass die Hexe am Leben war.
Da nahm der Lord ein Boot und ruderte aufs Meer hinaus, bis er den zerklüfteten Felsen fand, auf dem die Hexe mit ihrem Raben lebte. Zuerst erkannte er sie kaum, denn sie war alt und bucklig und grau, wettergegerbt durch tausend Seestürme. Doch als der Rabe sprach, wusste er, dass sie es war, und auch die Hexe erkannte den Lord wieder.
»Ich bin gekommen, um dich um Vergebung zu bitten«, sagte er. »Ich habe dir Unrecht angetan, und es tut mir leid.«
Die Hexe dachte über seine Bitte nach. Trotz ihres aufwallenden Grolls gegen ihn hatte sie noch immer ein gutes Herz, und so beschloss sie, ihm eine Chance zu geben, seine Untaten wiedergutzumachen.
Sie füllte ihren Hexenkessel mit Meerwasser und warf eine Feder von ihrem Raben und einige Gegenstände hinein, die das Meer angespült hatte: einen alten Stiefel, ein zerrissenes Fischernetz, einen Knopf, ein Buttermesser und ein Hufeisen. Zum Schluss gab sie ihren Hühnergott in die Mischung, den Stein mit dem Loch, der ihr als magisches Auge diente.
Als das Wasser im Kessel verkocht war, hatten sich alle Gegenstände auf die eine oder andere Weise verwandelt. Die Rabenfeder war jetzt ein goldenes Ei. Der Stiefel hatte sich in ein Paar wunderschöne neue Schuhe verwandelt, gefertigt aus feinstem Leder. Aus dem Hufeisen war eine Hasenpfote geworden, wie man sie als Glücksbringer trug, aus dem Knopf ein Umhang von weichstem Samt, aus dem Buttermesser ein juwelenbesetzter Dolch und aus dem Fischernetz schließlich eine Rolle aus festem Zwirn. Nur der Hühnergott blieb unverändert. Die Hexe holte den Stein aus dem Kessel und schleuderte ihn weit ins Meer hinaus.
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