»Du hast die Wahl«, krächzte der Rabe. »Für was auch immer du dich entscheidest – es wird dich zu dem führen, was du verdient hast. Der Stein ist jetzt eine Insel. Wenn du wirklich Vergebung willst, suche die Insel und bring mir das erste lebendige Etwas, auf das du dort stößt. Wenn du das schaffst, wird dir vergeben. Nimm dir einen Gegenstand aus dem Kessel, aber sei gewarnt: Nur eines dieser Dinge wird dir von Nutzen sein, weil es verzaubert ist. Die anderen werden großes Unglück bringen.«
Die Augen des Lords funkelten listig. »Was gibt es denn noch auf dieser Insel?«
»In ihrem Inneren schlummern unerschöpfliche Reichtümer«, antwortete der Rabe. »Aber darum musst du dich ja nicht kümmern. Du bist ja schon reich.«
Ohne zu zögern, griff der Lord in den Hexenkessel und befühlte die merkwürdigen Gegenstände, bevor er sich schließlich für den Dolch entschied. Dann machte er sich auf den Weg. Fasziniert malte er sich die geheimnisvolle Insel aus, schwor sich aber, dass er dem Befehl der Hexe folgen und mit dem ersten lebendigen Etwas von dort zurückkehren würde. Doch als er sich der Insel näherte, musste er ständig daran denken, was sich wohl in ihrem Inneren befinden mochte.
Ich bin zwar reich , dachte er, aber es gibt Männer, die sind noch viel reicher als ich, und zu denen möchte ich gehören. Es dauerte nicht lange, und seine Augen leuchteten so hell wie die Juwelen, die er sich ausmalte.
»Ich werde das erste lebendige Etwas mitnehmen, das mir begegnet«, sagte er zu sich selbst, »und dann ziehe ich weiter, um die Reichtümer zu finden. Die Hexe wird das nie erfahren, und wenn ich zurückkomme, kann ich ihr immer noch das Gewünschte abliefern.«
Als er sein Boot festmachte, entdeckte der Lord eine kleine verflochtene Wurzel, die in den Felsspalten am steilen Ufer der Insel wuchs. Er rupfte sie aus, stopfte sie in seine Tasche und kletterte dann die Felsen hinauf. In diesem Moment durchbrach ein krachender Donnerschlag die Stille. Der Lord rutschte aus und blieb mit dem Fuß in einer tiefen Felsspalte stecken, die sich plötzlich vor ihm aufgetan hatte. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht befreien. Nicht einmal der Dolch konnte ihm helfen, denn seine Klinge gab nach und bog sich wie das Schilf im Wind …
Er wurde nie wieder gesehen.
Für den Lord war dies das Ende, doch gleichzeitig war es der Beginn einer Geschichte, die von Generation zu Generation weitererzählt wurde: die Fabel von der einäugigen Hexe, die stets danach strebte, die Habgierigen auszutricksen und die Tugendhaften zu belohnen. Mit der Zeit veränderte sich die Geschichte, doch die Insel blieb, genauso wie die Hexe und der Rabe und die geheimnisvollen Gegenstände, die in den jeweiligen Nacherzählungen verschiedene sein konnten. Manchmal geriet die Geschichte für Jahre in Vergessenheit, doch von Zeit zu Zeit tauchte sie wieder auf und kam den Menschen zu Ohren: den Bedürftigen, den Strebsamen und den Habgierigen. Denn Geschichten können die Menschen überdauern, die sie erzählen, genauso wie Magie.
Und genauso wie eine Geschichte hinterlässt Magie immer eine Spur.
Die Gefängnisglocke begann kurz nach dem Abendessen zu läuten.
Es war ein tiefes, monotones Dong … Dong …, als würde die Glocke zwischen ihrem dumpfen Raunen immer wieder kurz Luft holen.
Im Schankraum des Wildschütz wiederum schwoll das Raunen der Gäste an wie das prasselnde Feuer im Kamin.
Betty Widdershins hörte auf zu kehren und hob erschrocken den Blick, als das Gemurmel durch die Kneipe ging. Ihre ältere Schwester, Felicity, die alle nur Fliss nannten, wischte gerade eine Bierlache von der Theke. Sie sah auf und begegnete Bettys Blick. Die Glocke war eine Warnung: Geht nicht auf die Straße! Bleibt in den Häusern! Verriegelt eure Türen ! Fliss legte ihren Putzlappen zur Seite und begann die Stammgäste zu bedienen, die an die Theke strömten, um sich nachschenken zu lassen. Das Lästern machte die Kunden durstig.
»Da ist jemand ausgebrochen, oder?«, fragte eine mürrische Charlie, die Jüngste der Widdershins-Schwestern. Sie saß am Tresen und zupfte missmutig an einer Rüsche ihres Kleides.
»Ja«, antwortete Betty. Sie dachte zurück an die anderen Male, als die Glocke geläutet hatte. So nah am Gefängnis auf der anderen Seite der Marsch zu leben, war eines der schlimmsten Dinge an Krähenstein. Ausbrüche waren zwar selten, aber sie kamen immer noch vor und versetzten jedes Mal den ganzen Ort in Aufruhr.
»Was für ein Lärm!«, beschwerte sich Charlie und steckte sich die Finger in die Ohren.
»Das kann man wohl sagen!« Die Großmutter der Mädchen, Bunny Widdershins, knallte übellaunig einen Krug Kräftigen Keiler auf den Tresen, und das Bier schwappte ihrem grauhaarigen Kunden über die Hände. »Das ist das Letzte, was wir heute gebrauchen können!« Sie warf dem Kunden einen vernichtenden Blick zu. »Und ich dachte, ich hätte dich gebeten, dich ein bisschen schick zu machen, Fingerty? Schlimm genug, dass wir draußen von lauter Gesocks umgeben sind, da müssen doch unsere Kunden nicht auch noch aussehen wie die letzten Landstreicher!«
»Ich hab mich doch schick gemacht!«, protestierte Fingerty beleidigt, aber er zog trotzdem einen Kamm aus seiner Westentasche und fuhr damit durch seine strähnigen Haare. Bunny stampfte davon, wahrscheinlich, um sich einen ordentlichen Zug aus ihrer Pfeife zu genehmigen.
Fliss schob Fingerty ein Gläschen Portwein zu. »Der geht aufs Haus«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber kein Wort zu Granny.« Fingerty leckte sich die Lippen, und sein mürrischer Gesichtsausdruck wurde weicher.
Betty lehnte den Besen an den nächstgelegenen Kamin und blickte sich um. Sie versuchte, die Kneipe mit den Augen eines Fremden zu sehen. Das war nicht einfach, denn die Widdershins arbeiteten nicht nur im Wildschütz , sie lebten auch dort. Betty war so an den schäbigen Anblick des Hauses gewöhnt, dass ihr die abgewetzten Teppiche und die abblätternde Tapete kaum noch auffielen. Doch heute schien die verschlissene Einrichtung hervorzustechen wie eine Krähe inmitten von Rotkehlchen.
Sie fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Es war eigentlich zu warm, um alle Feuer anzuzünden, aber Granny hatte darauf bestanden, damit die Kneipe gemütlicher wirkte. Betty und ihre Schwestern waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, Feuerholz aufzuschichten, den Boden zu wischen und die Zapfhähne zu polieren, bis sie glänzten. Fliss hatte sogar etwas gebacken, um das Haus mit einem heimeligen Duft zu erfüllen. So weit, so gut … wenn Grannys üble Laune die Atmosphäre nicht verdorben hätte.
Betty ging zu Charlie hinüber, die sich jetzt schon zum dritten Mal in zehn Minuten am beschlagenen Fenster herumdrückte.
»Granny sollte nicht so mit Gästen reden«, sagte Charlie. »Oder wir haben bald keine mehr!«
Betty schnaubte. »Glaubst du wirklich? Der Fuchsbräu ist fast zwei Meilen entfernt, und das Bier kostet dort das Doppelte!« Sie beugte sich zum Fenster vor und wischte einen kleinen Flecken frei, um durch die beschlagene Scheibe spähen zu können. »Sie müssten doch längst hier sein.«
»Die sollen sich mal beeilen, damit ich endlich dieses furchtbare Kleid ausziehen kann!«, murrte Charlie und zappelte unruhig. »Vornehme Kleider kratzen einfach wie verrückt!«
»Immerhin sind es zur Abwechslung mal nicht die Läuse, die jucken«, sagte Betty.
Charlie grinste und zog ihre Nase mit den vielen Sommersprossen kraus. Ausnahmsweise sah sie ganz manierlich und präsentabel aus. Ihr braunes Haar war ordentlich gebürstet und mit Schleifchen zu zwei glänzenden Zöpfen gebunden, aber Betty wusste, das würde nicht lange andauern.
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