»Ich bin doch nicht dein Diener!«, raunte Betty, aber als Pfui sie mit ihren giftigen, grellen Augen fixierte, wurde ihr klar, dass es natürlich genau so war. Wenn sie die Katze jetzt nicht hinausließe, würde sie einen unangenehmen Preis dafür zahlen, denn meistens war es Betty, die eine solche stinkende Angelegenheit am nächsten Morgen beseitigen musste.
»Verfluchte Katze«, murrte sie und steckte den Schlüssel ins Schloss. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass die Tür schon offen war. »Das wird doch nicht …«
Ein kalter Windhauch strich Betty um die Knöchel, als sie die Tür aufstieß. Sie trat nach draußen in den Hinterhof, und Pfui schoss an ihr vorbei. Der Mond stand verschleiert am nebligen Himmel, und in der Luft lag der salzige Geruch der Marsch. Betty strengte ihre Augen an, um etwas erkennen zu können, denn der Nebel um sie herum war dicker als die Rauchwolken, die Granny aus ihrer Pfeife ausstieß. Auf dem kopfsteingepflasterten Hof standen überall Kisten mit leeren Glasflaschen und übereinandergestapelte Bierfässer, die an die Brauerei zurückgehen sollten.
Betty ging zwischen den Kisten hindurch und spähte in die dunklen Ecken des Hinterhofs. Ein leises Wispern drang an ihre Ohren, und für einen winzigen Moment kamen ihr die Geschichten in den Sinn, die man sich seit jeher in Krähenstein erzählte. Legenden von Fischern und entflohenen Gefangenen, die sich im Nebel verirrt hatten und deren Seelen jetzt durch die Marsch spukten. Doch dann schüttelte Betty sich. Sie hatte sich fest vorgenommen, solche Dinge nicht zu glauben.
»Charlie?«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Bist du hier draußen?«
Schweigen. Dann wieder ein leises Wispern, gefolgt von einem schlurfenden Geräusch. Hinter einem Bierfass tauchte ein kleiner Kopf mit zwei unordentlichen Zöpfen auf. Zwei weit aufgerissene Augen starrten sie an.
»Verflixte Krähe, Charlie!«, knurrte Betty. Die Gedanken an Geister verblassten, und ihr Herzschlag beruhigte sich. »Was machst du mitten in der Nacht hier draußen?« Fröstelnd zog sie ihren Umhang fester um die Schultern und lief hinüber in die entfernteste Ecke des Innenhofs. Dort gab es eine winzige sumpfige Grasfläche und ein spärliches Blumenbeet.
Charlie hatte sich auch etwas Warmes übergezogen und schien in ihrer dunklen Kleidung fast mit den Schatten zu verschmelzen.
Zu ihren Füßen neben dem Blumenbeet lagen eine Schaufel und eine Streichholzschachtel mit etwas Kleinem und Gefiedertem darin. Es bewegte sich nicht. Betty schluckte. Bestimmt war Pfui der Übeltäter gewesen.
»Charlie!« Bettys Mitleid schlug in Verärgerung um. Jetzt war ihr klar, warum ihre tierverrückte kleine Schwester sich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen hatte. Sie deutete auf das Blumenbeet, in dem eine ganze Reihe von Zweigen steckten, von denen jeder ein winziges Grab markierte. »Du weißt doch, was Granny gesagt hat: keine Tierbeerdigungen mehr!«
Sie brach ab, als sie bemerkte, dass Charlie kaum zuhörte.
»Was ist los mit dir?«, fragte Betty. »Warum sagst du nichts?«
Charlie trat unruhig auf der Stelle und zeigte mit einem zittrigen Finger auf die Getränkekisten hinter sich. In dem dunklen Spalt zwischen zwei Kisten kauerte ein kleines Mädchen. Betty starrte sie an. Das Mädchen war ungefähr so alt wie Charlie, sechs oder sieben vielleicht. Ihr schmales schmutziges Gesicht war tränenverschmiert, und von der geflickten, abgetragenen Kleidung bis zum Hunger in ihren Augen war ihr die Armut anzusehen.
»Wer … wer ist das?«, brachte Betty hervor.
»Ich weiß auch nich’«, flüsterte Charlie. »Ich bin bloß nach draußen geschlichen, um den Vogel zu beerdigen, und da hab ich sie hier gefunden.«
Das Mädchen starrte sie mit großen Augen an und zitterte. Charlie ging in die Knie und streckte ihr eine Hand entgegen. »Wer bist du?«, fragte sie leise. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir tun dir nichts.«
Das kleine Mädchen zitterte, aber sie antwortete nicht. Ihre unordentlichen Haare hingen in lockigen Strähnen herunter, und die feuchten Kleider klebten ihr auf der Haut.
»Wie bist du hier reingekommen?«, fragte Betty. Ihre Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Das Mädchen wich in die dunkle Ecke zurück, aber irgendwie hatte sie ein Leuchten an sich. Betty fiel auf, dass die Glasflaschen in der Nähe glitzerten, auch wenn das Mondlicht gar nicht überall hinreichte. Hatte das Mädchen womöglich eine Laterne bei sich …?
»Schau mal.« Charlie deutete auf die Pforte in der Mauer. Sie war verriegelt, aber es gab einen Spalt, wo das Holz morsch geworden war. »Da muss sie sich durchgezwängt haben.«
Betty runzelte verstört die Stirn. In ihrem Hinterkopf prickelte es.
»Warum versteckst du dich?«, hakte Charlie vorsichtig nach, als würde sie mit einem verängstigten Tier sprechen. Dann zog sie erschrocken die Hand zurück, denn hinter dem zerschlissenen Kleid des Mädchens schwebte eine leuchtende Kugel hervor.
»Ein Irrlicht!«, stieß Betty aus. Sie packte Charlie und zog sie ein Stück zur Seite, als die Leuchtkugel vor ihnen in der Luft verharrte. »Ein Irrwisch! Das Mädchen kommt aus der Marsch!«
Charlie wich zurück und stolperte fast über die Schaufel, die daraufhin über den Boden schepperte. Ihr kleines Gesicht war angstverzerrt, und ihre Hände machten schnell das Zeichen der Krähe, das Granny ihnen beigebracht hatte, um das Böse abzuwehren.
Betty zögerte. Dann machte sie es ihrer Schwester nach, auch wenn es eigentlich ihrer praktischen Veranlagung widersprach, solchen Aberglauben ernst zu nehmen. Sicher ist sicher , dachte sie düster. Granny hatte sie immer gewarnt, dass die Irrlichter aus der Marsch Unheil brachten. Die Menschen in Krähenstein waren mit Geschichten über diese glimmenden Lichtkugeln aufgewachsen, die Reisende im Nebel auf Irrwege führten und für immer verschwinden ließen. Wie Granny sahen viele Leute in den Irrlichtern geisterhafte Nachklänge der vielen Leben, die bei der Überquerung der Marsch verloren gegangen waren.
Der Irrwisch schwebte vor dem Mädchen, ohne näher zu kommen. Sein unheimliches silbriges Licht warf gespenstische Schatten auf ihr schmales Gesicht und ließ sie auf einmal älter erscheinen.
»Charlie«, sagte Betty leise. »Geh lieber wieder ins Haus. Und du …« Sie wandte sich an das Mädchen. »Du gehst besser dahin zurück, wo du hergekommen bist.«
»Das kann ich nicht.«
Das Mädchen wisperte so leise, dass Betty für einen Moment glaubte, sie hätte sich ihre Antwort nur eingebildet, doch die Verzweiflung in ihren Augen war echt. Und noch etwas anderes lag in dem Blick des Mädchens: Entschlossenheit .
»Das kann ich nicht«, wiederholte sie, lauter diesmal. »Und das werde ich nicht.«
»Betty«, sagte Charlie, die das Mädchen nicht aus den Augen gelassen hatte. »Ich glaub, sie braucht unsere Hilfe.«
»Charlie Widdershins!«, zischte Betty. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst reingehen! Wir wissen überhaupt nichts von ihr, was sie will oder warum sie dieses … dieses Ding bei sich hat!«
»Es tut euch nichts«, begann das Mädchen, doch dann verstummte sie, als auf der anderen Seite der Hinterhofmauer schlurfende Schritte zu hören waren. Sie wich erneut zurück und sah so klein und ängstlich aus, dass sich auch in Betty Mitleid regte. Charlie hatte recht. Das Mädchen war offensichtlich in Schwierigkeiten. Aber warum?
Eine mürrische Stimme war zu hören. »Wenn ich es dir doch sage, da war Licht. Eine Laterne oder so was …«
Jemand rüttelte an der Pforte. Betty erstarrte, als der Strahl einer Taschenlampe durch den Spalt im morschen Holz drang und die glänzenden, feuchten Pflastersteine abtastete. Sie packte Charlie am Ärmel und kauerte sich mit ihr hinter ein großes, leeres Bierfass – gerade noch rechtzeitig. Das Licht der Taschenlampe wanderte flackernd über den Hof, und Betty presste einen Finger auf ihre Lippen, um das Mädchen und Charlie aufzufordern, still zu sein. Ausnahmsweise tat ihre kleine Schwester, was sie von ihr verlangte.
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