»Die sind doch nur an den Rändern angebrannt«, sagte Fliss gekränkt. Sie schob sich ihren dunklen Pony aus der Stirn und blinzelte.
Betty griff nach dem am wenigsten verkohlten Lebkuchen, den sie finden konnte, und bemühte sich, nicht zu husten, als sie den Rauch im Rachen spürte. »Mmh«, murmelte sie wenig überzeugend.
Bevor Fliss etwas entgegnen konnte, nahm Charlie sich zwei große Lebkuchen. »Einer für mich und einer für Hopsi.«
»Fängst du schon wieder mit dieser Ratte an?«, fragte Granny und stemmte die Hände auf die Hüften. »Ach, Charlie. Wenn du dir schon ein Haustier einbilden musst, warum kann es nicht ein nettes sein?«
»Ratten sind nette Tiere«, sagte Charlie und biss unverdrossen in ihren Lebkuchen. »Und keine Sorge, Granny. Hopsi sitzt sicher in meiner Rocktasche.«
»Nun, dann pass auf, dass er auch da bleibt«, murrte Granny.
Betty überließ Charlie und Granny ihrem Geplänkel über Ratten und erfundene Haustiere. Sobald Fliss nicht hinsah, warf sie den angebrannten Lebkuchen in den nächsten Kamin. Dann trat sie wieder ans Fenster und spähte zwischen einem Zweig getrockneter Vogelbeeren und Grannys anderen Glücksbringern in die Dämmerung hinaus. Abendnebel kroch von der Marsch herauf, und das ungute Gefühl, das Betty schon zuvor beschlichen hatte, verstärkte sich. Sie hatte sich immer über Grannys Aberglauben lustig gemacht, aber niemand konnte leugnen, dass die Widdershins in der Vergangenheit geradezu vom Pech verfolgt gewesen waren. Vielleicht war das Pech etwas, dem sie nicht so leicht entkommen konnten … wie Krähenstein selbst.
Da tauchte im Nebelgrau eine Gestalt auf. Ein Wärter pirschte auf der anderen Seite des Parks von Haus zu Haus und klopfte an die Türen. Betty wusste, ihm würden weitere folgen. Um nach demjenigen zu suchen, der es gewagt hatte zu flüchten. Die Wärter würden nicht aufgeben, bis der Gefangene gefunden war. Schon bald würden sie durch den Park zum Wildschütz herüberkommen, argwöhnisch herumschnüffeln und jede Menge Fragen stellen.
Betty spähte angestrengt nach draußen. Unter dem mächtigen Eichenbaum im Park bewegte sich etwas. Im Schatten unter seinen Zweigen lungerten zwei Gestalten und starrten zum Wildschütz herüber. Es war schwer zu erkennen, aber es schienen Männer zu sein. Bettys Herz schlug schneller. Das mussten die Leute sein, auf die sie warteten, die potenziellen Käufer … Brüder, hatte Granny gesagt. Ihren Gesten nach zu urteilen, stritten sich die beiden.
Einer von ihnen fuchtelte ungeduldig mit den Händen und machte einen Schritt auf den Wildschütz zu. Der andere schüttelte den Kopf, deutete zuerst auf die Kneipe und dann auf den Wärter, der von Tür zu Tür ging. Mit schwerem Herzen beobachtete Betty, wie die Männer sich umdrehten und in Richtung Fähre zurückgingen, ihre Schritte im Takt der läutenden Gefängnisglocke. Sie konnte sich vorstellen, was sie jetzt zueinander sagten: Das lohnt sich nicht … Was ist das überhaupt für ein Ort hier? Da finden wir doch was Besseres …
Betty wandte sich vom Fenster ab. Ihre Augen brannten vor Rauch und Enttäuschung. Granny hatte recht, dachte sie. So schnell würden sie die Kneipe nicht loswerden.
Doch Granny hatte nicht in allem recht. Die Widdershins würden in dieser Nacht doch noch Besuch bekommen … wenn auch nicht den, mit dem sie gerechnet hatten.
Kapitel 2 Das Zeichen der Krähe
Charlie!«, rief Fliss aufgebracht, als sie aus dem Badezimmer kam. »Warum ist mein Bett voller Krümel?«
»Weil ich auf meinem nicht sitzen konnte.« Charlie wischte sich mit dem Ärmel Butter vom Kinn und deutete auf das Bett, das sie mit Betty teilte. »Sie hat sich mal wieder total breitgemacht. Wie immer .«
Fliss schwebte einmal quer durch das Zimmer der Mädchen und rubbelte ihre kurzen dunklen Haare trocken. Ein Schwall süßlichen Rosenblütendufts folgte ihr. Fliss fegte die Krümel von ihrem Kopfkissen, stellte sich vor den Spiegel und kämmte sich zufrieden seufzend die frisch gewaschenen Haare.
Betty sah von den Landkarten auf, die sie auf dem Bett ausgerollt hatte. »Wenigstens eine von uns freut sich über Grannys neue Anweisung, zweimal in der Woche zu baden«, sagte sie.
Es war Abend geworden. Die Dunkelheit schien durch die zugigen Fenster dringen zu wollen, und von unten war Gemurmel zu hören, als Granny ankündigte, den Wildschütz für heute zu schließen.
Vorhin, als die Wärter gekommen waren, mit Schlagstöcken an die Tür gepocht und mit bellender Stimme ihre Fragen gestellt hatten, war es ganz still geworden in der Kneipe, während die Glocke draußen umso lauter zu tönen schien. »Zwei Ausreißer«, hatten sie berichtet. »Eine Person wurde halb ertrunken an Land gespült und wird die Nacht wohl nicht überleben. Die andere ist noch auf freiem Fuß …« Ein Raunen war durch die Kneipe gegangen, und ungefähr eine Stunde nachdem die Wärter sich davongemacht hatten, war die Glocke endlich verstummt.
Betty hatte damit gerechnet, erleichtert zu sein – nun mussten sie den Gesuchten gefunden haben –, doch es gelang ihr noch immer nicht, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln. Aber das hatte bestimmt nur mit dem bedrohlichen Auftreten der Wärter zu tun, sagte sie sich. Zuletzt waren sie vor ein paar Monaten in die Kneipe geplatzt, auf der Suche nach zwei Wärtern, die spurlos verschwunden waren, und auch damals hatten sie alle in Aufregung versetzt.
»Ich kann es nicht erwarten, bis wir das Haus verkauft haben«, sagte Charlie und riss Betty wieder in die Gegenwart zurück. Sie stopfte sich ein weiteres Stück Toast in den Mund. »Dann können wir endlich mit diesem Verkleiden und ständigen Waschen aufhören. Ein Mal baden in der Woche ist schlimm genug.«
»Ferkel«, murmelte Betty, auch wenn sie Charlie insgeheim zustimmte. Nicht dass sie etwas gegen das Baden an sich gehabt hätte. Es nervte sie nur, dass ihre Haare dadurch noch krauser wurden, als sie es ohnehin schon waren.
»Was guckst du dir denn diesmal an?«, fragte Charlie und hockte sich auf die Bettkante.
»Alle möglichen Orte«, sagte Betty. Für einen Moment waren die Sorgen, die heute den ganzen Tag an ihr genagt hatten, verflogen, und sie spürte die Begeisterung, die sie immer überkam, wenn sie Landkarten betrachtete. Es gab so viel zu entdecken! Außerhalb von Krähenstein wartete eine ganze Welt auf sie. Wohin würde es sie wohl verschlagen?
»Wie wäre es damit: Groß Schnoddburg. Das klingt doch spannend. Da gibt es Wald und eine Burgruine …«
Fliss schnaubte. »Der Klang sagt doch noch nichts darüber aus, wie ein Ort wirklich ist!«
»Bei Krähenstein schon«, gab Betty zurück. »Das klingt genauso düster, wie es ist.«
»Was ist damit?«, fragte Charlie und kam mit ihrem klebrigen Zeigefinger gefährlich nah an Bettys wertvolle Karten heran. »Da ist ein Strand in der Nähe. Bett…Bett…«
»Bettlersheim«, las Betty. »Klingt auch nicht gerade einladend. Aber wenn man arm ist, darf man nicht wählerisch sein, sagt Granny immer. Und das trifft auf uns wohl auch zu.« Sie schob Charlies Hand zur Seite. »Hast du dich schon wieder über die Lavendelmarmelade hergemacht, du gefräßiges Monster?«
»Genau.« Charlie leckte sich die Finger und hüpfte vom Bett. Sie ging hinüber zur Kommode, auf der eine bunt bemalte Matroschka stand, und drehte geschickt an den hölzernen Puppen.
Betty erkannte, was Charlie vorhatte. »Nicht!«, flüsterte sie, aber es war zu spät. Mit einer einzigen Bewegung hatte Charlie die zwei Hälften der äußersten Puppe einmal entgegen dem Uhrzeigersinn herumgedreht. Dabei waren ihre Augen in schelmischer Erwartung auf Fliss gerichtet.
Fliss, die damit beschäftigt war, selbst gemachtes Duftwasser auf ihre Handgelenke zu tupfen, schrie auf, als plötzlich und wie aus dem Nichts eine dreibeinige Ratte vor ihr auftauchte.
Читать дальше