Michelle Harrrison
Eine Prise Magie
Aus dem Englischen von Mareike Weber
© Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
© Michelle Harrison 2019
Aus dem Englischen von Mareike Weber
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
A Pinch of Magic bei Simon & Schuster UK Ltd, London
Lektorat: Sophie Härtlin, Hamburg
Coverillustration: Melissa Castrillón
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN 978-3-96177-544-6
www.WooW-Books.de
www.instagram.com/woowbooks_verlag
In liebevoller Erinnerung an Elizabeth May Harrison, 1943–2017
Die kühnste, mutigste Betty, die es je gab.
ist »Widdershins« nicht ein großartiges Wort? Ich bin darauf gestoßen, als ich alles Mögliche über Hexen recherchiert habe (für die Arbeit natürlich)! Es bedeutet, sich in die falsche Richtung bewegen oder gegen den Uhrzeigersinn, und es wird mit Unglück in Verbindung gebracht. Deshalb habe ich die Familie in diesem Buch so genannt.
Mithilfe dreier magischer Gegenstände machen sich die Widdershins-Schwestern Betty, Fliss und Charlie daran, einen tödlichen Familienfluch zu brechen. Doch werden die Gegenstände sie zu den Antworten führen, die sie brauchen, oder womöglich nur in weitere Gefahr?
Solange ich denken kann, haben mich Geschichten über verzauberte Gegenstände fasziniert. Ob es der Kamm ist, der in der Schneekönigin Gerdas Erinnerungen stiehlt, oder das Gemälde, das in Hexen hexen das kleine Mädchen gefangen hält – die Idee, dass alltägliche Gegenstände versteckte Kräfte haben können, macht Magie etwas greifbarer. Und in diesem Buch findet sich jede Menge Magie, zusammen mit einer Ratte namens Hopsi, einer Katze namens Pfui und einem Gefängnisausbruch, der überhaupt nicht nach Plan verläuft!
Ich hoffe, die Widdershins und die neblige Marsch von Krähenstein werden eure Fantasie genauso in den Bann ziehen wie meine. Folgt nur nicht den Irrlichtern …
Ein nebliges, magisches Leseerlebnis wünscht euch
Michelle Harrison
Die Gefangene starrte aus dem Fenster. Es gab vier davon im Krähensteinturm, diesem hohen, steinernen Käfig, in dem man sie eingesperrt hatte.
Wenn sie hier stand und den Blick nach oben richtete, konnte sie so tun, als würden die Gefängnismauern darunter nicht existieren, als würde sie die Welt von einer Burg aus betrachten, oder vielleicht von einem Berg.
Doch heute hatte sie endgültig genug davon, sich vorzugaukeln, es wäre alles ein Traum oder jemand würde kommen, um sie zu retten. Das Mädchen schlang die Arme fester um seinen Körper, versuchte sich gegen den unbarmherzigen Wind zu schützen, der durch die offenen Fenster pfiff. Er roch nach der Marsch: brackig, mit einem Hauch von Fisch. Es war Ebbe, und vor ihr erstreckte sich eine endlose Schlicklandschaft. Dazwischen konnte sie Möwen erkennen, die an gestrandeten Fischen herumpickten, Büschel von Sumpfgras und ein verlassenes zerschelltes Ruderboot. Eine Locke ihrer langen rotbraunen Haare wehte ihr zwischen die Lippen. Sie zog sich die Strähne aus dem Mund, schmeckte Salz und beugte sich über den zerkratzten Steinsims, so weit sie es wagte.
Die Fenster hatten keine Gitter. Das brauchten sie auch nicht. Die Höhe des Turms war Abschreckung genug. Der Lärm der dort draußen kreisenden Krähen hörte nie auf. Am Anfang hatte sie in den Vögeln Freunde gesehen, die ihr mit ihrem Gekrächze Gesellschaft leisteten. Manchmal landete eine von ihnen auf dem Fenstersims. Pickte, lauerte, beäugte sie mit starrem Blick. Das Krächzen klang bald nicht mehr so freundlich. Vorwurfsvoll, spöttisch klang es. Moorhexe , schienen die Krähen mit den Stimmen der Dorfbewohner zu krächzen . Aus dem Moor kam sie, drei von uns fanden den Tod durch sie.
Sie hatte nie jemandem etwas zuleide tun wollen.
Die Kerben im Stein erstreckten sich über den ganzen Fenstersims, eine für jeden Tag, den sie gefangen gewesen war. Einst hatte sie gewusst, wie viele es waren, aber jetzt zählte sie nicht mehr.
Sie ging eine Runde durch das Turmzimmer und fuhr mit den Fingern über den Stein. Da waren noch weitere Kerben in der Maueroberfläche: einige zu zornigen Wörtern geformt, andere tiefe Furchen, wo sie Dinge gegen die Wand geworfen hatte. Sie hatte den Stein zum Bröckeln gebracht, doch befreien konnte sie sich nie.
Ein blasser roter Mond war gestern am Himmel erschienen und hatte unter den Wärtern für viel Gerede gesorgt. Es war immer ein schlechtes Omen, wenn der Mond bei Tageslicht zu sehen war, aber ein roter Mond war noch schlimmer. Ein roter Mond war ein Blutmond, ein Zeichen, dass Böses im Gange war.
Das Mädchen suchte die rauen Steine ab, bis sie die kleine Lücke im Mörtel fand, die sie entdeckt hatte, als sie noch nicht lange im Turm gewesen war und die Wände nach möglichen Trittlöchern abgetastet hatte. Als sie noch Hoffnungen gehabt hatte, fliehen zu können. In diesen Spalt hatte sie ein abgebrochenes Mauerstück geklemmt und vor den Gefängniswärtern versteckt. Der Mauerbrocken war zu klein, um als Waffe zu taugen, aber die Wärter würden ihn ihr mit Sicherheit wegnehmen, wenn sie davon wüssten.
Sie hebelte den Stein heraus und hielt ihn in der Hand. Sie erkannte ihre eigenen Finger kaum wieder. Ihre einst gebräunte Haut war dreckig und grau, ihre Nägel rissig. Sie nahm den Stein und kratzte damit auf der Wand, als würde sie mit Kreide schreiben. Sie schrieb ein einziges Wort: einen Namen … den Namen des Menschen, der ihr unrecht getan hatte. Mit jedem Buchstaben bündelte sie ihre dunklen Gedanken, bis sie den Stein aus ihren Fingern fallen ließ. Sie brauchte ihn nicht mehr. Dies war das Letzte, was sie schreiben würde.
Sie starrte hinüber nach Krähenstein. Zur Mittagsstunde sollte ein Boot sie über das Wasser bringen, zum Platz an der Wegkreuzung. Dort wurde in diesem Moment der Galgen aufgestellt. Es würde ihre erste und letzte Reise zur Hauptinsel sein. Ihre letzte Reise irgendwohin.
Dort würde sie hingerichtet werden.
Sie fragte sich, wie den Wärtern wohl bei dem Gedanken zumute war, eine vermeintliche Hexe über die Marsch zu transportieren. Natürlich würde man sie in Ketten legen, was Hexen angeblich wehrlos macht, aber selbst der furchtloseste Wärter würde ein mulmiges Gefühl haben, in ihrer Nähe zu sein, sobald sie nicht mehr im Turm war. Besonders, wenn ein Blutmond am Himmel stand.
Ihr Blick schweifte hinaus über die Marsch, wo alles begonnen hatte, auf einem kleinen Boot, in einer stürmischen Nacht. Als drei Menschen ihr Leben verloren hatten.
»Ich wollte nie jemandem etwas zuleide tun«, flüsterte sie. Ihre tauben Finger klammerten sich an den Fenstersims. Es stimmte, damals hatte sie niemandem etwas antun wollen, aber jetzt war Rache das Einzige, woran sie denken konnte.
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