Drinnen geht es gänzlich anders zu als in jenem Gottesdienst, den ich hier im Sommer erlebt habe. Die jungen Leute aus der Hausgemeinde sitzen in den ersten zwei Reihen, dahinter mindestens fünfzig Konfirmandinnen und Konfirmanden. Als ich komme und mich in die Reihe hinter die Jugendlichen setze, ist es unruhig. Viele quatschen, einige albern herum. Wie man es von »Konfis« kennt. Einige Nachzügler stürmen in die Kirche, als gehöre sie ihnen. Heilige Gefühle bekommt angesichts des sakralen Raumes jedenfalls niemand. Auch die antiken Kronleuchter, die Wandleuchten, die Kerzen am Altar oder der angestrahlte Corpus Jesu am Kreuz werden von den Jugendlichen vermutlich kaum wahrgenommen. Die Nachzügler quetschen sich in eine bereits voll besetzte Bank.
Christian scheint für diese Andacht zuständig zu sein. Er läuft vorne hin und her, verteilt noch ein paar Liederbücher und sortiert eine überbelegte Reihe um. Vor mir sitzen zwei ältere Jugendliche, vermutlich Mitarbeiter aus der Gemeinde dieser Konfirmanden. Einen dazugehörigen Pastor sehe ich nicht.
Mit einigen Minuten Verspätung geht es los. Christian baut sich vorne auf. Er sagt zunächst nichts, schaut nur in die Gruppe. Das Wunder passiert. Als drehe man den Lautstärke- Knopf am Radio, wird es langsam leiser. Als Christian seine Ansagen macht, ist es nach wenigen Sekunden still. Die Gruppe ist erst vorhin vor dem Abendessen mit einem großen Reisebus angereist. Wie die Andacht läuft, weiß also niemand. Ein Heft hilft, die Texte mitzusprechen und die Lieder mitzusingen.
Am elektrischen Klavier sitzt Jakob. Er ist mir gestern kaum aufgefallen. Vielleicht ist er der ruhige Pol in der aktuellen Hausgemeinde. Klavierspielen kann er jedenfalls, zumindest so, dass man mitsingen kann. Anna Lena steht neben dem Klavier und leitet den Gesang. Es sind durchgehend neue Lieder, einige in Englisch. Ich habe den Eindruck, die Konfis möchten zwar, können aber nicht so recht mitsingen, da die Lieder ihnen fremd sind. Trotzdem, jetzt sind sie voll da ...
Christian führt durch die Andacht. Aufstehen, Hinsetzen, das gibt es auch hier. Anna Lena ist heute mit einer Auslegung zu einem Bibeltext dran. Wie alt mag sie sein? Ich schätze achtzehn.
Sie steht dort, als habe sie nie etwas anderes gemacht. Souverän erzählt sie den Jugendlichen etwas von ihrem Glauben. Sie bezieht sich dabei auf den Spruch für die erste Adventswoche. »Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer!« In mir klingeln Erinnerungen aus meiner Pfadfinderzeit. Auch Ewald liebte diesen Vers aus den Alten Testament.
Anna Lena macht es hervorragend. Sie schaut nicht nur auf ihr Manuskript, sie schaut auch die Konfirmanden an.
»Unmöglich! Ein König war noch nie bei dir zu Besuch, oder? Noch nicht mal ein Präsident oder ein Minister. Die gehen doch nur zu Ihresgleichen ...« Anna Lena beschreibt das unglaubliche Ereignis von Weihnachten im Bild des Propheten Sacharia. Weihnachten als Fest der Kleinen Leute, die ganz großen Besuch bekommen, Besuch von Gott, dem Chef und König vom Ganzen. Welche Aufwertung jener, die sonst nichts zu melden haben! Welche Liebe zu den einfachen Leuten! Anna Lena versteht es richtig gut, das Interesse für Jesus als diesen König zu wecken. Besonders als sie dann von sich selbst erzählt, spitzen alle die Ohren. Ich auch.
»Ich hatte mal ein echt mieses Selbstbewusstsein. In der Schule wurde ich von einigen Mädels gemobbt. Niemand fand mich nett oder interessant und wollte meine Freundin sein. Die Jungs sind auch nur auf die Tussis in unserer Klasse geflogen. Ich aber war eher eine graue Maus. Dann ging ich nach der Konfirmation in den Jugendkreis. Mehr und mehr befasste ich mich mit Jesus – und heute stehe ich hier vor euch! Das ist allein deshalb möglich, weil Gott zu mir gekommen ist, ausgerechnet zu mir, der ehemaligen grauen Maus.«
Schade, dass ich hinten sitze und deshalb die Gesichter der meisten Jugendlichen nicht sehen kann. Jene, die ich von der Seite sehe, sind aufmerksame, gespannte, ja gefesselte Gesichter. Es ist mucksmäuschenstill. Alle hören zu. In der Reihe vor mir stößt ein Junge in Kapuzenpullover seinen Nachbarn an und will eine Bemerkung machen. Der jedoch weist ihn zurecht: »Still!« Ob das Weihnachtswunder der Stillen Nacht bereits hier und heute beginnt?
Ich bin beeindruckt. Jetzt verstehe ich, was Theo Beyer meinte, als er davon sprach, dass die Hausgemeinde das »Herz des Hauses« sei und die Gäste auf die jungen Leute oft mehr hören als auf die Profis.
Nach einer halben Stunde ist die Andacht vorbei. Der Abgang hat es allerdings noch einmal in sich. Sie nennen es »Shake-Hands-Kette«. Einer beginnt, alle marschieren los und jeder wünscht jedem per Handschlag einen guten Abend. Bei über fünfzig Leuten dauert das. Nicht nur die Hand kommt ins Schwitzen. Eine junge Frau stellt sich mir als Pastorin der Gruppe vor. Ich hatte gedacht, sie sei ehrenamtliche Mitarbeiterin oder gar eine ältere Konfirmandin. Bin eigentlich ich in den paar Jahren so alt geworden? Oder sind Pastorinnen heute so jung? Oder beides?
Die Konfis stürmen aus der Kirche hinaus wie sie hinein gestürmt sind, geräuschvoll und schnell. Die Hausgemeinde klönt oder diskutiert noch im Altarraum. Für sie ist dieses Gotteshaus vermutlich inzwischen so etwas wie ein zweites Wohnzimmer. Ich sage Anna Lena, dass ich ihre Predigt gut fand. Sie freut sich riesig. Christian klopft ihr auf die Schulter und meint:
»Anna Lena ist ja auch die Beste von uns. Sie wird bestimmt mal Pastorin!«
»Blödmann, auch ihr anderen macht das gut mit den Auslegungen. Aber danke. Mir macht das echt Spaß und ich gebe gerne etwas von meinem Glauben an die Konfis weiter!«
Ich vermute, dass an Christians indirekter Einschränkung, was die Predigten der anderen angeht, etwas dran ist. Die Gaben sind ja wirklich verschieden. Vielleicht muss ich auch noch einmal wiederkommen, wenn Magda dran ist. Ob sie auch Zweifler zu Wort kommen lassen? Das wäre gewagt – aber sympathisch.
Beim Hinausgehen frage ich Christian: »Sag mal, macht ihr alle die Auslegungen zu Bibeltexten? Oder nur wer will?«
»Nee, wir alle machen das. So wie Putzen und Abwaschen gehört es zu unseren Aufgaben.«
»Und wenn jemand mit dem Glauben Probleme hat?«
Christian schaut mich an als habe ich bereits ziemlich viel in seiner Welt durchschaut.
»So wie Magda? Oder auch ich manchmal? Oder Yvonne? Oder Andreas? Oder Anna Lena? Herr Jahnke, wer von uns hätte denn keine Zweifel?«
Es verschlägt mir fast die Sprache. Das heißt schon was bei einem alten Reporter. Welch Weisheit aus jungem Munde!
*
Jede und jeder rennt so schnell es geht ins Trockene. Für mich ist das mein Golf. Es schüttet jetzt. Soll ich wirklich noch Maren Bender besuchen? Unangemeldet, einfach so?
Ich starte den Golf. Wieso er in Richtung Neubausiedlung fährt, kann ich nur vermuten. Jedenfalls stoppe ich ihn vor dem Haus der Witwe, an die ich so oft denken muss. Das Außenlicht geht sofort an. Seit einer Einbruchserie sind hier alle Häuser mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Ich zögere.
Dann stehe ich vor der Haustür, die Hand am Klingelknopf. Es läutet. Im Flur brennt Licht. Eine Frau kommt zur Tür. Es ist nicht Maren Bender.
Ich bin irritiert und höre mich leicht stottern.
»Entschuldigung, dass ich so spät hier auftauche. Ist Frau Bender zu Hause?«
Schnell schiebe ich noch nach, dass ich Jens Jahnke heiße und nur ganz kurz vorbeischaue, da ich gerade zufällig in Himmelstal bin.
Die junge Frau hat lange, dunkelbraune Haare, sieht irgendwie südländisch aus und ist ausgesprochen hübsch.
»Kommen Sie doch herein. Aber bitte sprechen Sie leise! Ich habe gerade meinen kleinen Jeschu ins Bett gebracht.«
Sie zeigt die Treppe hinauf. Jeschu? So hieß doch das Kind im Tagungshaus. Ob dies die Mutter ist?
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