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Besonders frei fühle ich mich, wenn ich auf meinem Fahrrad sitze. Ich spüre den Luftzug, komme voran und kann auch schmale Gassen und Fahrspuren nutzen. Meinen Golf lasse ich folglich so oft es geht vor dem Haus stehen. Energiesparen? Sicher, aber ein echter Klimafanatiker ist aus mir nie geworden, weder 2019 Jahre nach Christus noch 1 Jahr nach Greta Thunberg.
Jetzt stelle ich mein Rad vor dem »Einstein« am Rande der kleinen Fußgängerzone ab und schließe es an eine Laterne. Stühle, Tische und Sonnenschirme sind längst weggeräumt. Im November gab es bereits Nachtfrost und auch der Dezember hat kühl und trübe begonnen. Nicht nur in den Dörfern, auch in der Stadt halten sich die Leute jetzt vor allem drinnen auf.
Entsprechend voll ist der Gastraum des Bistros. Die rustikalen Tische sind vor allem mit Angestellten der umliegenden Büros besetzt. Sie genießen den günstig angebotenen Mittagstisch.
Schorse sitzt an einem Zweiertisch direkt an der Wand.
»Jens, hier!«, er winkt mir zu. »Bei mir ging es doch schneller als gedacht.«
Wir bestellen beide das Gleiche, Schweineschnitzel mit geschmorten Zwiebeln, Champignons, Pommes und einem großen Alster.
Es ist schön, einen so alten Kumpel wiederzusehen. Wir albern herum.
»Schweineschnitzel! Da fällt mir unser Spanferkel ein!«
Wir lachen beide, erinnern wir uns doch ausgesprochen gut an jene wilde Zeit bei den Pfadfindern. Jemand hatte uns ein Spanferkel gespendet. Beim Herbstmarkt hatten wir es portionsweise verkauft und über hundert Mark eingenommen. Und was haben wir damit gemacht? Wir sind hungrig und durstig in unseren Stammimbiss gegangen und haben Kotelett, Pommes und Bier für die gesamte Summe verzehrt. Auf Deutsch: Alles wieder versoffen und verprasst.
Es ist wirklich schön, die alten Zeiten noch einmal aufleben zu lassen. Schorse und Jens in Kluft mit grauem Hemd und blauem Halstuch, Stammeslager, Wimpel, Nachtmarsch, Lagerbau, Knotenkunde, Feuermachen – ach, das waren wirklich tolle Zeiten.
»Was macht wohl der kleine Schissie heute?«
»Keine Ahnung. Vielleicht drillt er seine Urenkel mit Bibel und Schlüsselbund.« Wir lachen so laut, dass Leute vom Nachbartisch herübersehen.
Wir hatten damals zwei »Führer«, ja so hießen die Ober-Pfadfinder immer noch, auch über zwanzig Jahre nach dem Führer. Besonders der kleine Schissie, der jüngere Bruder vom großen Schissie, war ein scharfer Hund. Wir hatten zu gehorchen und zu spuren. Wenn nicht, flog ein Schlüsselbund – oder eben, weil wir ja christliche Pfadfinder waren, eine dicke, kantige Bibel.
»Und, Jens, woran arbeitest du gerade?«
Die Frage kommt für mich etwas unvermittelt. Ich erzähle ihm von meinem Weihnachtsprojekt.
»Na, da kannst du ja nahtlos an die Pfadfinderzeit anknüpfen! Weißt du noch, die Andachten mit Ewald?«
Allerdings, wie könnte ich die kurzen aber eindrücklichen Andachten mit dem Nachfolger von Schissie je vergessen. Ewald war ganz anders. Er kümmerte sich um uns und interessierte sich für das, was wir gerne mochten. Als ich ihn, den inzwischen über Achtzigjährigen im Sommer besucht habe, fühlte ich mich in seinem Haus sofort wieder geborgen und angenommen.
»Und woran arbeitest du? Welche Ganoven jagt ihr gerade? Ach nee, du bist ja inzwischen bei der Mordkommission. Also welche Mörder jagt ihr?«
Schorse wird plötzlich ernst.
»Wir jagen diesen Kindermörder. Aber wir kommen einfach nicht weiter!«
Ich hatte davon natürlich gelesen, jeder hatte das. Und jede und jeden hatte es gegraust, vor allem in Gedanken an die eigenen Kinder. Im großen Waldgebiet an der Kreisgrenze hatte man zwei Babyleichen gefunden. Beide konnten bis heute nicht identifiziert werden. Oder doch? Vor mir saß der zuständige Kommissar.
»Habt ihr die Babys inzwischen identifiziert?«
Er zögerte, bevor er sprach.
»Wir sind inzwischen sicher. Du musst es für dich behalten. Bloß nichts an die Presse!«
Er lacht und als ich ihm mein okay gebe, weiß er, dass ich mein Versprechen halte.
»In einem Hamburger Mietshaus werden zwei Babys vermisst. Leider haben wir wegen schlampiger Aktenführung und fehlender Vernetzung zwischen den einzelnen Dienststellen viel zu lange gebraucht, dies zu ermitteln. Bereits seit dem sechzehnten Oktober sind die Babys verschwunden, einfach weg. Anhand der DNA haben wir erst seit ein paar Tagen die Gewissheit, dass es sich um genau diese Kinder handelt.«
Ich bin geschockt.
»Waren es Geschwister?«
»Seltsamerweise nicht. Sie wohnten einfach nur im selben Haus. Die Eltern hatten nichts miteinander zu tun. Sie kannten sich nur vom Sehen.«
»Also kein Familiendrama.«
»Wohl nicht. Die Babys sind vermutlich entführt worden.«
»Wie kommt ihr darauf?«
»An besagtem Tag wurde ein Kastenwagen vor dem Haus gesehen. Zwei Männer saßen lange Zeit darin ohne auszusteigen.«
»Es könnten also die Entführer gewesen sein? Gibt es ein Nummernschild, Personenbeschreibungen oder so etwas?«
»Fehlanzeige. Nur drei Anwohnern ist das Fahrzeug aufgefallen. Keiner von ihnen hat sich etwas Brauchbares gemerkt.«
»Aber wie konnten die Babys einfach so entführt werden?«
»Das eine Baby schlief auf der Wiese vor dem Haus im Kinderwagen, das andere stand nur ganz kurz unbeaufsichtigt im Buggy vor der Wohnungstür im ersten Stock.«
»Da müssen die Entführer eine Menge Glück gehabt haben! Gibt es Lösegeldforderungen?«
»Ebenfalls Fehlanzeige! Eine der Mütter ist alleinerziehende Verkäuferin. Sie hat noch eine kleine Tochter. Die Eltern des andern Babys haben noch zwei Kinder im Kindergartenalter und leben von Hartz IV. Bei beiden gibt es also nichts zu holen.«
»Was ist mit sexuellen Motiven?«
Mir wird übel wenn ich so etwas auch nur denke. Wie kann man Kleinkinder oder gar Babys missbrauchen? Das ist einfach nur pervers. Allerdings, wenn jemand Babys tötet und sie in einen Fuchsbau steckt, erscheint auch alles andere möglich.
»Die können wir ausschließen. Der oder die Täter haben die Kinder ausgezogen, vermutlich um Spuren zu vernichten, und sie dann einfach entsorgt. Du hast ja wohl in eurem Konkurrenzblatt gelesen, wie.«
Ich spüre, dass meinem Freund das Thema unangenehm wird. Er hat ja recht. Wir treffen uns seit langer Zeit endlich wieder und essen und klönen gemütlich. Da sollten berufliche Probleme Nebensache sein. Wir haben gegessen – inzwischen sind unsere Teller leer.
»Noch ein Bier?«
Wir bestellen uns noch ein Alsterwasser. Er fragt mich nach einer neuen Beziehung. Ich halte mich zurück. Von Maren Bender weiß er nichts und muss auch nichts wissen. Er hat den Fall damals mit Sicherheit in den Medien verfolgt, mir ja sogar einige Tipps gegeben. Ich will aber jetzt nicht schon wieder in ein kriminelles Fachgespräch abrutschen.
Er erzählt mir von seinen Kindern. Ich frage nach seiner Frau und wie die Ehe so läuft. Alles gut, meint er, nur dass Frauen oft schwer zu verstehen und für ihn oft ein Geheimnis sind. Ach Schorse, wie ich dich da auf Anhieb verstehe ...
»Immerhin, ich bin aus Sicht meiner Kollegen ein seltenes Exemplar. Über 25 Jahre mit derselben Frau verheiratet! Das gibt es im gesamten Lüneburger Kommissariat kein zweites Mal – abgesehen von einem Inspektor in der Asservatenkammer. Die meisten Polizisten-Ehen gehen leider nach wenigen Jahren kaputt.«
»Wie bei den Journalisten.« Ich weiß, wovon ich rede.
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Dunkelheit, schlechte Sicht, Nieselregen, Blätter auf der Straße, entgegenkommende Scheinwerfer – eine Fahrt über Land an einem Dezemberabend ist kein Vergnügen. Es wird bereits gegen fünf Uhr dunkel. Jetzt ist es kurz vor sieben.
In Himmelstal werde ich überrascht. Die alte Dorfkirche wird angestrahlt und leuchtet weihnachtlich. Alles Grau von gestern und von unterwegs ist vergessen. Die bunten Fenster sind von Innen erleuchtet. Ein Juwel, diese Kirche!
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