Sein Wortspiel finden alle gut. Wir lachen. Ich spüre, hier sind Leute, für die Weihnachten nicht ein Konsumfest ist, sondern die sich mit der wahren Bedeutung auseinandersetzen.
»Hoffentlich. Schön wär’s ja«.
Das kommt von Magda. Sie ist eine hübsche, schlanke Frau, ein Model-Typ. Allerdings versteckt sie das unter eher lässigen Klamotten. Ihre langen dunklen Haare hat sie hochgebunden. Ein Ökoschal verdeckt Hals und Schultern. Ihren freien Tag verbringt sie offensichtlich hier im Tagungshaus.
»Magda. Schon wieder Zweifel?« Es klingt ein bisschen ironisch, so als ob Anna Lena ihre Kollegin bereits gut kennt.
»Ja. Was vor zweitausend Jahren passiert sein soll – wieso sollen wir das heute feiern? Ein Kind wird geboren. Gut. Das passiert jeden Tag. Aber die Geschichten darum herum, wer kann denn so etwas glauben!«
»Meinst du die Jungfrauengeburt? Da steht doch einfach ›junge Frau‹ in der Bibel. Vermutlich wurde die Jungfräulichkeit Marias später von der Kirche als angeblicher Beweis der Bedeutung Jesu verbreitet. Meinungsmache damals!«
Anna Lena schaut mich an. So als wäre ich für die Meinungsmache heute zuständig – was ja irgendwie auch stimmt.
»Ja, ich meine aber auch das ganze Drumherum. Die Hirten, die Engel, die Typen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken, der hinterhältige König Herodes, der Stall, die Krippe als Kinderbett, der Stern über Bethlehem ... das riecht doch alles nach Legendenbildung und Märchenbuch.«
Eben noch dachte ich, vor mir sitzt eine einheitlich fromme und gläubige Gruppe junger Leute, engagiert für ihren Glauben und ihren Gott – jetzt merke ich, dass es in dieser recht intensiven christlichen Gemeinschaft große Unterschiede gibt. Was ich gut finde: Sie reden drüber. Sie haben selbst hier am Tisch vor einem Journalisten keine Angst, ihre Zweifel zu artikulieren. Alle Achtung.
Das Gespräch geht weiter. Auch Andy mischt noch mit. Theo Beyer sitzt am Nachbartisch. Als er mitkriegt, worum es geht, bietet er an, das Thema Weihnachten im nächsten Bibeltreffen mit der Hausgemeinde mal biblisch-theologisch zu bearbeiten. Ich frage, ob ich da mal mitmachen kann. Er schaut in die Runde. Als kein Widerspruch kommt, meint er:
»Normalerweise ist das vierzehntägige Treffen intern. Da das Team jedoch einverstanden ist, habe auch ich nichts dagegen. Allerdings mit einer Auflage: Sie berichten nichts davon in Ihrer Zeitung, jedenfalls nichts von dem was wir persönlich von uns preisgeben.«
Ich bin einverstanden.
*
Als ich satt und ein bisschen mittagsmüde in meinem Golf sitze, überlege ich, ob ich Maren Bender besuchen soll. Ich beschließe, es jetzt nicht zu tun. Vermutlich ist sie ohnehin in Lüneburg. Dort arbeitet sie im Krankenhaus. Vielleicht fahre ich morgen Abend mal vorbei, bevor ich die Andacht in Himmelstal besuche ... wenn ich mich traue.
Den Nachmittag verbringe ich am Schreibtisch in der Redaktion. Jeder von uns hat mehrere Aufgaben. So kann auch ich mich in diesen intensiven Dezemberwochen nicht nur dem Thema »Jesu Geburtstag« widmen, sondern muss auch zur Jahresversammlung des Kleingartenvereins, zu zwei Märchenaufführungen ins Theater, in einen Schützenverein und als Vertreter eines kranken Kollegen zu zwei Gerichtsverhandlungen.
All das will vorbereitet sein. Wie gut, dass wir das Internet haben! So bekomme ich die meisten, früher mühsam erfragten Informationen schon vorab und kann gezielt Fragen stellen. Auch die Fehlerquote bei Zusammenhängen, Namen und Hintergründen verringert sich spürbar. Jedenfalls, wenn man seinen Job als Journalist ernst nimmt. Selbstverständlich ist das leider nicht.
Im Sitzungssaal II wird gegen einen Kleinkriminellen verhandelt, der in der Kreisstadt mehrfach Einbrüche verübt und als nächtlicher Störenfried mit Gewaltpotenzial in und vor einschlägigen Lokalen aufgefallen ist. Dem Richter platzt angesichts der belastenden Vorwürfe gegen Werner S. der Kragen:
»Es reicht! Sammeln Sie in den nächsten Monaten statt der Anzeigen gegen Sie erst einmal zwei bis drei Gedanken darüber, wie Sie Ihr Leben in den Griff bekommen. Ich gebe Ihnen dafür ein kleines Zimmer und vier Wochen in der JVA bei freier Verpflegung. Damit derweil die Bürger unserer Stadt ein ruhiges Weihnachtsfest verbringen können, treten Sie Ihre Auszeit gleich von hier aus an. Die vier Tage in Polizeigewahrsam werden ihnen angerechnet.«
Ein Richter greift durch. Ich bin gewiss, dass sich während der Partys und Trinkgelage der Adventswochenenden andere Chaoten finden, die Werner S. würdig vertreten. Unserem KB wird der Stoff jedenfalls nicht ausgehen. Der Kollege, den ich vertrete, wird nach seiner Genesung die Gerichtsberichte allerdings wieder selbst schreiben müssen.
Am Ausgang stoße ich beim Öffnen der Glastür fast mit einem Mann meines Alters zusammen.
»Schorse!«
»Jens! Was machst du denn hier?«
Schorse, mit richtigem Namen Georg Martens, kenne ich noch aus meiner Zeit bei den Pfadfindern in der Nähe von Bremen. Wir waren damals dicke Freunde. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Er ging zur Polizei, ich zur Zeitung. Vor einigen Jahren haben wir wieder Kontakt bekommen und uns seitdem gelegentlich getroffen. Er ist in Lüneburg bei der Kripo gelandet.
»Na, das muss ich dich ja wohl erst recht fragen. Du hast dein schönes Lüneburg verlassen und kommst in meine Provinzmetropole.«
»Dienstlich, nur dienstlich!« Schorse lacht. »Ich muss als Zeuge zu einer Verhandlung wegen mehrerer Autodiebstähle. Wir haben einen Typen aus eurer schönen Stadt bei uns erwischt, als er einen BMW klauen wollte.«
Schorse muss sich beeilen. Wir verabreden uns zum Mittagessen in der Innenstadt. Ich schwinge mich auf mein Stevens-Crossrad und düse in die Redaktion.
*
Den Artikel über Werner S. zu schreiben ist ein Kinderspiel. Meinem geschätzten Kollegen gestehe ich gerne zu, mal krank zu sein – aber das wird er nicht durch Arbeitsüberlastung. Er hört sich im trockenen Gerichtssaal die kleinen oder auch größeren Geschichten an, setzt sich hin und schreibt seine Artikel. Kein Gerenne, keine weiteren Recherchen, keine zusätzlichen Interviews, wetterunabhängig. Welch ein ruhiges Reporterleben!
Allerdings nichts für mich! Ich brauche Abwechslung, Herausforderungen, Geheimnisse und manchmal auch Action.
Dass ich seit über dreißig Jahren beim Kreisblatt hängengeblieben bin, lässt das Gegenteil vermuten. Okay, das mag auch an meiner notorischen Trägheit liegen, oder an meiner gescheiterten Ehe, oder weil sich ein paar Gelegenheiten zerschlagen haben. Es liegt jedenfalls nicht daran, dass sie mich zum Ressortleiter oder sonst wohin in besser bezahlte und dafür arbeitssparende Regionen befördert hätten. Im Gegenteil. Mindestens dreimal bin ich übersprungen worden. Die meisten Chefs in unserem Verlagshaus sind inzwischen viel jünger als ich, mal abgesehen von Chefredakteur Florian Heitmann. Kaum jemand glaubt es mir, weil fast alle auf der Karriereleiter nach oben klettern wollen. Trotzdem stimmt es: Die Arbeit als normaler Journalist an der Basis macht mir einfach unglaublich viel Spaß. Es stimmt natürlich, dass sich vieles wiederholt. Feuerwehr, Schützen, Kreis- und Rathauspolitik, Autobahn A39, der böse Wolf, Veranstaltungen, Vereine – und so weiter! »Immer dasselbe« sagen viele. Eben Käseblatt-Niveau. Mag sein. Aber es macht Spaß, den vielen verschiedenen Leuten zu begegnen, in unzählige Milieus und Lebensräume hineinzukommen und Denkweisen und Überzeugungen aller Art kennenzulernen. Ich liebe das. Genau deshalb ist mir auch die aktuelle Recherche um Weihnachten ein besonderer Genuss.
Hinzu kommt meine Freiheit. Die Redaktionssitzung – sonst habe ich keine regelmäßigen Verpflichtungen. Gleitende, selbst bestimmte Arbeitszeit, keine Residenzpflicht, Spesenabrechnungen gemäß der Belege – fertig! Klar, wenn ich Termine ausmache, sollte ich die einhalten, will ich nicht alle Sympathien verscherzen. Aber wann und wo ich einen Termin mache, entscheide ich selbst. Das nenne ich Freiheit!
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