Einige Autos kommen mir entgegen, alle mit Licht, obwohl es Vormittag ist. Kein Mensch ist auf der Straße. Die Feldsteinkirche wirkt inmitten der kahlen Eichen nicht mehr einladend und idyllisch wie im lichten Sommer, sondern abweisend wie eine Trutzburg im dunkelsten Mittelalter. Man kann sich jetzt gut vorstellen, dass der heutige Glockenturm damals als Wehrturm gute Dienste leistete.
Ich parke meinen grauen Golf IV vor der Kirche. Das Hinweisschild für einen Besinnungsweg ist nach dem Ortsschild der zweite Farbklecks. An der Kirche beginnt der »Auferstehungsweg«, ein Angebot für Pilger, Natur- und Kunstfreunde, die sich mit den biblischen Ostergeschichten, sich selbst und der Natur auseinandersetzen wollen. Im nächsten Ort gibt es ein Kloster. Dort endet dieser meditative Weg mit Bildern des Künstlers Werner Steinbrecher nach vierzehn Stationen. Der durchsichtige Kasten am Pfosten der Station enthält keine Flyer mehr. Vermutlich ist die Saison für Pilger längst vorbei.
Ob sie irgendwann auch noch einen »Weihnachtsweg« installieren? Das wäre doch mal eine Idee. Für meine Weihnachts-Recherche käme ein solches Projekt zwar zu spät, aber vielleicht wird sie ja zum Auslöser dafür.
Auch am Tagungshaus gegenüber der Kirche sehe ich keinen Menschen. Der Fachwerkgiebel wirkt bei trübem Licht abgewetzt und reparaturbedürftig. Die mächtige Säuleneiche davor hält ihre braunen Blätter fest, als seien es Kinder, die sie nicht loslassen möchte, weil sie um ihr Sterben weiß.
Wieder amüsiere ich mich über das kleine Schild neben dem Eingang. »Luther war hier!« steht dort. Schon im November gab es Minusgrade. Jetzt hat der Weinstock, dessen Reben an der Wand hochklettern, keine Blätter mehr. Deshalb erkennt man schneller das kleine Wörtchen unter dem dicken Text es Schildes: »Nie«. Luther war hier – nie.
Jens Jahnke dagegen war schon hier, wenn auch nur kurz. Ihm widmet allerdings niemand ein Schild. Ich drücke den runden Klingelknopf an der hölzernen Haustür. Hoffentlich ist jemand da.
Durch die Scheiben der Tür sehe ich eine junge Frau aus einem Raum in den Flur und dann zur Haustür kommen. Sie ist schlank, hat lange dunkle Haare und trägt eine Brille mit braunem Rand.
»Hallo, mein Name ist Jens Jahnke. Ich bin mit Ihrem Chef verabredet, mit Theo Beyer.«
»Kommen Sie herein. Ich heiße Anna Lena und gehöre zur HG. Ich vermute, wir haben schon miteinander telefoniert.«
Richtig, ich erkenne ihre Stimme. Sie öffnet die Eingangstür und ich folge ihr. Gut, dass ich inzwischen weiß, was »HG« bedeutet. Mir scheint, die Leute in diesem Tagungshaus verfallen der Versuchung vieler Gemeinschaften, sich über Abkürzungen und Insidersprache zu verständigen. Nichts dagegen – aber sobald jemand von außerhalb kommt, versteht man sich nicht mehr. Und ich komme von weit draußen! Jetzt wörtlich und was die christliche Szene angeht auch im übertragenen Sinn. Na, ich bin gespannt, was ich hier überhaupt verstehe ...
Anna Lena bringt mich in eine Art Büro mit Esstisch. Dort sitzen mindestens zehn Personen. Vor dem Tisch auf dem Fußboden ist eine dicke Decke ausgebreitet. Dort liegt ein Baby auf dem Bauch und spielt mit einem bunten Clown. Eine junge Frau hockt daneben und hält das Kind bei Laune. Familienfreundlich, denke ich.
Ein schlanker, dunkelhaariger Mann am Kopfende des Tisches steht auf und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Herr Jahnke, danke für Ihr Interesse! Ich bin Theo Beyer, der Leiter dieser Einrichtung.«
Der Mann ist mir auf Anhieb sympathisch. Er ist schlicht in Jeans und Polohemd gekleidet, trägt einen kleinen Kinnbart und seine grüngrauen Augen leuchten im Licht der Deckenlampe. Er wendet sich nach unserer Begrüßung wieder der Runde am Tisch zu.
»Herr Jahnke ist Journalist vom Kreisblatt. Er hat Interesse daran, unsere Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Besonders interessiert ihn, was uns an Weihnachten wichtig ist.« Er wendet sich wieder an mich. »Und wir sind daran interessiert, Sie zu unterstützen und danken gleichzeitig, dass wir so die Chance bekommen, ein bisschen mehr von unserer ›Insel der Seligen‹ bekannt zu machen.«
Allgemeines Schmunzeln und Nicken.
»Wir sitzen gerade in unserer wöchentlichen DB, also der Dienstbesprechung«, informiert mich Theo Beyer, »aber ich bin jetzt entbehrlich und kann mit Ihnen nach nebenan gehen. Die Aufgabenverteilung kriegt ihr allein hin. Andy, übernimmst du die Leitung?«
Der zuletzt angesprochene Andy, ein Mann mit Dreitagebart, der mir irgendwie bekannt vorkommt, und alle anderen nicken. Typisch Teamsitzung, denke ich. Papiere, zwei oder drei Smartphones, Kaffeetassen, O-Saft, Wasser und wichtige bis gelangweilte Minen. Das bedeutet Redaktionssitzung. Hier nennen sie es also DB. Gut, dass wenigstens der Chef gemerkt hat, dass er die Abkürzungen zumindest zu Beginn einem Nicht-Insulaner erklären muss.
»Vielleicht ist es gut, wenn ich Ihnen unser Team vorstelle. Später sprechen Sie ja noch mit den Einzelnen.«
Ich bin mehr als einverstanden. Genauso habe ich es mir gedacht: Zuerst ein Gespräch mit dem Leiter, dann sehen, was hier so läuft, einzelne Interviews, Fotos, vielleicht auch Interviews mit Gästen und ... mal sehn. Wahrscheinlich muss ich noch ein- bis zweimal wiederkommen.
»Fangen wir mit dem Nachwuchs an. Das da unten ist unser aller Jeschu!« Beyer zeigt mit einem gewissen Stolz auf das Baby und schmunzelt. »Manchmal quakt er auch, aber wir freuen uns, dass seine Mutter jetzt bei uns ist.«
Wer von den jungen Frauen hier die Mutter des Kleinen ist, sagt er leider nicht. Vielleicht ist es das Mädchen, das gerade mit Jeschu spielt. Jeschu? Ist das ein jüdischer Name?
Das Team, das sich mir nun vorstellt, ist eine bunte Mischung aus jung und alt – Tendenz jung.
Bereits dies ist in meiner bescheidenen Reporterpraxis untypisch für Kirche. Die kirchlichen Veranstaltungen, über die ich bisher berichtet habe, wurden vor allem von älteren Leuten besucht. Kam man von hinten in einen Raum und sah die Köpfe der Besucher, schaute man auf ein graues Einheitsmuster. Hier jedoch sah man nur bei Andy, Petra und Irmtraud graue Schläfen. Andy ist als Geschäftsführer für die Belegung mit Gruppen zuständig, Petra leitet die Hauswirtschaft und Irmtraud ist Küchenchefin. Sie bilden zusammen mit dem Leiter und dem Pastor der Gemeinde sozusagen das Stammteam des Hauses. Andy ist schon sehr lange dabei. Er grinst mich an.
»Hey, Jens Jahnke! Wir sind uns schon mal begegnet.«
Es stimmt. Ich habe ihn einmal auf einer Lebensmittel-Messe interviewt. Damals war er noch für den Einkauf von Nahrungsmitteln zuständig.
Die Freiwilligen machen einen aufgeschlossenen Eindruck. Anna Lena, Andreas, Christian und Jakob sitzen am Tisch. Yvonne spielt mit dem Baby und Magda hat gerade ihren FT (freien Tag). Sie schütteln mir brav die Hand. Einige haben einen festen, zwei einen laschen Händedruck. Wie in allen Teams dieser Welt wird es auch in diesem hier »solche und jene« geben. Also – alles ganz normal.
Bereits wenn ich eine christliche Gemeinschaft als »normal« bezeichne, würde mein geliebter Florian Heitmann zusammenzucken. Aus seiner Sicht sind sie allesamt entweder religiöse Spinner, Verführte oder Scharlatane. Schade, dass Florian jetzt nicht hier ist, denke ich. Diese jungen Menschen wirken engagiert, offen und modern. Auch die Kleidung entspricht dem, was man heute so trägt. Handys scheinen hier allerdings während der Besprechung tabu zu sein. Wie bei uns in der Redaktion.
Andy übernimmt die Moderation der Besprechung und ich gehe mit Theo Beyer in einen Raum nach nebenan. Das Büro ist ansprechend eingerichtet. An der Wand hängen Originale einer befreundeten Künstlerin. Schreibtisch, Stühle und Schrank sind aus hellem Holz hochwertig gefertigt. Auf dem Schreibtisch steht ein Flachbildschirm und davor zwei Stühle.
Читать дальше