»Richtig Chef, und was ist das größte Geschenk zu Weihnachten?«
Eine Kollegin kichert: »Die freien Tage!«
Florian grinst: »Du meint, dein Jesus?«
Ich merke zum Glück rechtzeitig, wie sich mir die Haare aufstellen und bemühe mich um freundliche Sachlichkeit.
»Ja, Chef. Es ist natürlich nicht mein Jesus, sondern genauso auch dein Jesus. Ohne die Geburt Jesu würde es Weihnachten nicht geben. Folglich geht es um seinen Geburtstag!«
»Den haben wir ja am Wochenende deftig gefeiert. Was meinst du, was mich das gekostet hat?«
In den Gesichtern der Kolleginnen und Kollegen spiegeln sich Missbilligung und Widerspruch. Elefanten sind gleichzeitig sensible Geschöpfe, zumindest außerhalb von Porzellanläden. Unser Chef hat nicht nur die Statur jener sensiblen Tiere, er teilt auch ihre Klugheit. Also macht er schnell einen Rückzieher. »Oh sorry. Ich meine natürlich nicht mein Geld, sondern das der Redaktion. Und natürlich habt ihr alle diese üppige Weihnachtsfeier unbedingt verdient. Das habe ich ja auch am Samstag in meiner Dankesrede zum Ausdruck gebracht.«
Die Kollegen schauen nun etwas wohlwollender. Florian entspannt sich.
»Also Jens, du willst moderne Jesusgeschichten schreiben? So was wie die letzte Auferstehungsgeschichte?«
»Vermutlich gibt es so etwas nicht noch einmal. Ansonsten stimmt es: Ich will schreiben, was Menschen hier und heute von Jesus halten, wie sie Weihnachten als seinen Geburtstag feiern und was ihr christlicher Glaube für ihr alltägliches Leben austrägt.«
Alle nicken jetzt zustimmend, bis auf den Chef.
»Und du meinst, das interessiert unsere Leser?«
»Allerdings. Wir müssen den Hype um Jesus nach der Geschichte um Oliver Bender ausnutzen. Noch immer sind die Gerüchte um den Auferstandenen nicht abgeklungen.«
Ich mache eine kleine Pause und trinke einen Schluck Wasser, bevor ich meine letzten Karten auf den Tisch lege. Vielleicht stechen ja die touristischen Trümpfe.
»Chef, außerdem liegt in unserem Landkreis ein bisher verborgenes Juwel: Himmelstal. Die Dörfer Himmelstür und Himmelpforten kriegen massenhaft Post in diesen Wochen und sind allein wegen ihres Namens weltberühmt.«
Florian grinst. »Ja, weil der Nikolaus und der Weihnachtsmann dort ein- und ausgehen. Und nun willst du deinen Jesus bei uns im Landkreis ansiedeln? Himmelstal statt Bethlehem.«
»Noch mal Chef, es ist auch dein Jesus! Ja, warum denn nicht. Der Name des Dorfes hat enormes Potential, berühmt zu werden. Gott kommt vom Himmel ins Tal. Weihnachten in Himmelstal!«
»Ich weiß nicht. Mir kommt das alles viel zu fromm und gleichzeitig zu alltäglich vor, langweilig und sensationsfrei. Ja, wenn es Tote gäbe! Wir haben ja gerade gesehen, wie die Lüneburger Konkurrenz die Geschichte von den zwei toten Babys ausgeschlachtet hat. So etwas wollen die Leute lesen, etwas mit schaurigem Gruselgefühl und der gleichzeitigen Freude, selbst nicht betroffen zu sein. Aber Jesus heute? Weihnachten und Gott in Himmelstal? Wen interessiert das schon?«
»Mich zum Beispiel!«
Unsere Medienbeauftragte sagt das erste Mal etwas und sofort sind alle Augen auf die hübsche Blondine aus Ostfriesland gerichtet. Elske ist erst zweiundzwanzig und seit wenigen Monaten beim Kreisblatt.
»Chef, vergiss die vielen Frauen unter unseren Lesern nicht. An ermordeten Babys haben die mit Sicherheit keinen Gefallen. Das geht allemal den Müttern viel zu nahe. Aber wie es etwa in Himmelstal weitergeht, oder wie andere Familien Weihnachten feiern, oder ob Glaube, Beten und die religiöse Seite von Weihnachten für Menschen heute überhaupt noch eine Rolle spielen – das interessiert uns Frauen!«
Die anderen drei Frauen in der Runde nicken zustimmend.
»Und wie hoch ist der Anteil der Frauen bei unserer Leserschaft?« Der Online-Chef unterstützt Elske und mich auf seine sachliche Art. »Bei den Zeitungen die Hälfte und Online sogar weit darüber!«
Florian bleibt nichts anderes übrig, als mir den Auftrag zu geben. Gegen Frauenpower hast du als Mann keine Chance.
»Also Jens, dann bringst du in den Adventswochen jeweils einen Artikel mit Fotos von deiner Jesus-in-Himmelstal-Serie. Du kriegst in den Dienstagsausgaben jeweils eine ganze Seite, natürlich inklusive Werbung. Heiligabend wäre dann dein letzter Beitrag dran. Beginnen kannst du meinetwegen schon morgen.«
Wenn schon, denn schon! Unser Chef ist ein Mann der Tat. Allerdings ist mir das zu rasant.
»Chef. Bis Morgen habe ich nichts. Sagen wir, meine Beiträge stehen immer an den Advent-Samstagen drin. Der letzte kommt dann am Heiligen Abend, pünktlich zum Geburtstag des Christkindes.«
»Okay, berede das mit dem Setzer. Wir rechnen also mit dir! Aber untersteh dich und sülze zu viel frommes Zeug daher – und wehe, es wird eine kirchliche Werbekampagne!«
Er wischt über den Tisch, als läge dort ein Blatt mit »Jesus lebt in Himmelstal« und er müsse es wegschieben, damit das Leben weitergeht. Dabei gibt es noch keine einzige Notiz – mal abgesehen von einigen Gedanken in meinem Kopf.
Ich hatte mir bereits im Sommer vorgenommen, einmal etwas über die christliche Gemeinschaft im Tagungshaus von Himmelstal zu machen. Mit tausenden Gäste-Übernachtungen leisten sie dort einen spürbaren Beitrag zur touristischen Bedeutung unseres schönen Heide-Kreises. Durch den Gästebetrieb ist das kleine Dorf Himmelstal in Deutschland und darüber hinaus bekannt. In Indien unterstützt der Träger des Tagungshauses viele Bildungseinrichtungen seiner Partner dort. Um es kurz zu machen: Bei uns im Landkreis wissen die Leute gar nicht, welcher Schatz im kleinen Himmelstal greifbar neben ihnen liegt. Das sollte sich dringend ändern.
Auf dem Weg von der Redaktion nach Hause, langsam vor mich hinradelnd, überlege ich noch, ob ein zweiter Grund mich ins kleine Dorf Himmelstal treibt. Maren Bender heißt sie. Seit ihr Mann wieder beerdigt wurde, habe ich sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Vermutlich hat sie keinerlei Interesse an mir. Aber mir geht sie nicht aus dem Sinn.
*
Den Nachmittag verbringe ich mit Recherchen im Internet. Zwar habe ich einen Schreibtisch im Verlagshaus, muss jedoch nicht unbedingt anwesend sein. Zwei freie Mitarbeiterinnen nutzen meinen Arbeitsplatz ebenfalls. Je mehr ich zuhause arbeite, desto mehr Möglichkeiten der Präsenz im Verlag haben diese beiden Kolleginnen. So jedenfalls meine Ausrede ...
Das »Tagungshaus mit Herz« hat eine gut aufgemachte Internetseite. Es gibt viel zu stöbern. Bei meinem letzten und ehr zufälligem Besuch dort, habe ich bereits verstanden, was mit dem Kürzel »HG« gemeint ist. Hausgemeinde. Das sind junge Menschen, die dort einen Freiwilligendienst leisten. Sie leben in Gemeinschaft zusammen, arbeiten im Gästebetrieb, halten Gebäude und Grundstück in Schuss und machen Andachten in der Kirche. Ich bin gespannt zu hören, was sie von Weihnachten halten ...
Am späten Nachmittag rufe ich eine der angegebenen Nummern an. Nach mehrfachem Klingeln nimmt jemand ab. Im Hintergrund klappert Geschirr und scheppert ein Radio. Vielleicht bereiten sie das Abendessen vor und lassen Musik laufen. Eine junge Frauenstimme meldet sich.
Ich bitte sie, mir ihren Chef ans Telefon zu holen.
»Oh, welchen meinen Sie? Den vom Gästebetrieb oder unseren Pastor?«
»Na, den Leiter vom Ganzen!«
Ich bekomme eine andere Nummer, wähle erneut und habe Erfolg.
»Theo Beyer.«
Den Namen dieses Leiters höre ich das erste Mal. Aber ich bin richtig verbunden. Der Mann ist der Stimme nach Mitte oder Ende dreißig. Wir verabreden uns für morgen Vormittag gegen elf Uhr.
Als wären Landschaft und Orte mir fremd, so erscheint mir die Anfahrt. Nein, nicht fremd. Farblos, verlassen, triste und kahl trifft es eher. Diese Strecke bin ich oft gefahren, zuletzt Ende August. Der Wald, die Felder, Dörfer und Straßen sind mir bekannt – und doch tauche ich jetzt in eine Welt ein, die ich anders in Erinnerung habe, frischer, freundlicher, sommerlicher. Das gelbe Ortsschild ist der einzige Lichtpunkt, als ich hinab ins Bachtal mit der Wassermühle fahre. Knorrige Eichen und kahle Linden ragen schwarz in den Himmel. Ihre Äste wirken vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Wolken irgendwie gespenstisch. Die Teiche und der zur Mühle gehörende Wasserlauf liegen neben der feuchten Asphaltstraße wie schwarze Löcher im Universum. Ein Hund streunt vor der Landbäckerei herum. Vielleicht sucht er nach Brotresten. Gleich zweimal kreuzen Katzen die Straße, eine schwarze und eine braun gefleckte. Ich muss bremsen. Abergläubisch bin ich nicht. Ich vergesse auch immer die Richtung, in der die schwarze Katze über die Straße laufen muss, damit es gefährlich wird. Außerdem beweisen diverse platt gefahrene Katzen auf unseren Straßen, dass vor allem wir gefährlich sind. Ob auch Katzen abergläubische Weisheiten tradieren? »Mensch von rechts bringt Schlecht’s, Mensch von links, Glück bringt’s.«
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