Jetzt bin ich es, der einen Moment still ist. Sollte ich in eine Sackgasse geraten sein?
»Manfred, das hört sich schwierig an. Ich muss über diesen Schröder, seine Familie und den Eichenhof wenn möglich alles herauskriegen. Wenn ich dort schon nicht hinkomme, ist es dann wenigstens möglich, dich zu besuchen und du erzählst mir, was du weißt?«
Manfred lacht.
»Okay, das kann ich gerne machen. Du klingst eilig, also komm gleich heute Nachmittag. Bis fünf habe ich Konfirmandenunterricht. Ich sitze gerade an den Vorbereitungen. Nach dem Unterricht hätte ich maximal zwei Stunden Zeit.«
Wir verabreden uns.
Vermutlich infiziert von der öffentlichen Meinung war ich lange Zeit der Meinung, dass Pastoren nur sonntags arbeiten. Inzwischen bin ich besser informiert. Klar, auch Kirchenleute arbeiten mehr oder weniger engagiert, viele von ihnen kommen aber locker auf fünfzig oder gar sechzig Stunden die Woche. Bei Manfred sind es vermutlich noch mehr. Ich freue mich deshalb, dass ich ihn schon heute besuchen kann.
»Ich arbeite im Leben und ich lebe bei der Arbeit!« hat er in einem der Interviews einmal gesagt. »Ich habe nie verstanden, dass ich auf meine ›work-life-balance‹ achten soll. ›Work‹ und ›life‹ sind doch kein Gegenüber! Ich lebe schließlich auch, wenn ich arbeite!« Auf dieses Zitat hin bekam ich damals einige Zuschriften von Lesern, die meinten es sei schädlich für Arbeitnehmer und Gewerkschaften, wenn wir so etwas abdrucken. Leute, die keine Ahnung vom wahren Arbeitsleben hätten, sollte unsere Zeitung nicht unterstützen.
*
Nach meinem Telefonat mit Manfred geht mir der Artikel um das Tagungshaus wesentlich schneller von der Hand. Meine Gliederung spreche ich zur Sicherheit noch einmal mit dem Ressortchef der Online-Ausgabe ab.
Meinen Chef Florian mit Zwischenergebnissen zu konfrontieren, wäre Zeitverschwendung. Er will die Auflage steigernde Artikel sehen, mehr nicht. Außerdem ist er häufig unterwegs. Termine mit Büffet und Catering liebt er besonders, allemal wenn dort VIPs verkehren, die sich mit ihm fotografieren lassen. Um nicht fies und illoyal zu wirken muss ich ergänzen, dass Florian Heitmann vielleicht nicht so viel wie ein engagierter Pastor, aber doch relativ regelmäßig und effektiv arbeitet. Unser Verlagshaus hat es vor allem ihm zu verdanken, dass wir mit den Zeitungen mehrerer Landkreise und der Online-Redaktion schwarze Zahlen schreiben und unsere Gehälter pünktlich überwiesen werden. Ich vermute, dass viele der wichtigen Deals für unser Verlagshaus gerade an jenen Büffets plus abendlicher Cocktailbar verabredet werden – in Ergänzung mit einem Dimple-Drink bei Vertragsabschluss im Büro des Chefs. Als wolle er unbedingt dem Klischee eines coolen Chefreporters entsprechen, hat Florian den Whisky in seinem Schrank versteckt.
*
Beim Dönermann gönne ich mir gegen zwölf eine Dönertasche, radle dann zu meiner Wohnung und mache eine kleine Mittagspause. Zeitung lesen, für zehn Minuten einnicken, dann sofort weitermachen – so mag ich es und spüre neue Kraft. Noch ein schneller Espresso aus der Maschine und ich starte meinen Golf IV für die Fahrt nach Unterlüß.
Mein Auto ist zwar ehr eine graue Maus, aber zuverlässig und pflegeleicht. Gerade wenn man nicht auffallen will, sollte man keinen teuren, edlen, roten oder weißen Schlitten fahren. Grau passt immer.
Als ich die B4 verlasse, stecke ich bereits seit mehreren Kilometern mitten in einem riesigen Waldgebiet. Jetzt aber, abseits der Durchgangsstraßen, umschließt mich die grüne Lunge unseres Bundeslandes von allen Seiten. In frischem Grün präsentiert sich mir der Wald heute allerdings nicht. In dieser Region hat es Anfang der Siebziger Jahre einen verheerenden Brand gegeben. Dörfer und Höfe mussten damals evakuiert werden und die Löscharbeiten hatten Wochen gedauert. Inzwischen ist der anschließend aufgeforstete Mischwald gewachsen. Trotzdem werden die meisten Flächen weiterhin mit Nadelwald bewirtschaftet. Vermutlich bestimmt auch im deutschen Wald der Profit den Takt und die Musik schreiben die Konzerne.
Egal ob Laub- oder Nadelbäume, der Wald zeigt sich heute zu beiden Seite der Straße dunkel, dicht und irgendwie feindlich. Die kahlen Stämme und Äste der Buchen, Birken und Eichen wirken genauso abweisend wie die schwarzen Kiefern, die wie eine Armee schlanker Krieger in Reih und Glied aufgestellt wurden. Anders als gestern und vorgestern ist es heute trocken. Die Straße lässt sich gut befahren und die Sicht ist gut. Trotzdem beschleicht mich in diesen schier endlosen dunklen Wäldern ein ungutes Gefühl. Nein, vor dem Wolf graut es mich nicht. Der hat sich zwar seit Jahren in dieser Region verbreitet, wird sich aber vermutlich hüten, auf Menschen loszugehen. Es ist vielmehr ein unbestimmbares inneres Warnsignal, was sich da meldet. »Dieser Wald ist nicht dein Lebensraum. Hier gelten andere Regeln. Wer hier bestehen will, muss stark sein. Hier gehörst du nicht hin!« So oder ähnlich klingt das Echo dieses Waldes in mir, selbst im Vorbeifahren.
*
Im Wohnzimmer meines Freundes sind solche Gedanken und Gefühle bereits nach wenigen Sekunden verflogen. Manfred und ich sitzen bei einer Tasse Kaffee neben seinem Kaminofen. Der runde Keramikofen heizt hervorragend. Er verfeuert nur vier bis fünf Stücke Holz am Tag, berichtet mein Gastgeber stolz. Ein moderner Glastisch steht auf einem weinroten Teppich. Die skandinavischen Sessel, helle Vitrinen und ein Glasschrank passen hervorragend zusammen. Schnell wird klar, dass dieser Raum von einem Schwedenliebhaber bewohnt wird, allemal wenn man die kleine schwedische Fahne am Bücherregal entdeckt hat. Gelbes Kreuz auf blauem Grund, schöne Farben, finde ich.
Manfred trägt dunkle Jeans, ein kariertes Hemd und darüber eine dunkelblaue Strickjacke. Er wirkt wie immer ruhig, abgeklärt und freundlich. Auf Männer mittleren Alters mit Bart, schütterem Haar und Birkenstocksandalen mag dies häufiger zutreffen.
»Du willst also alles über Heinrich Schlüter, die Erneuerte Heimat und den Eichenhof wissen?«
Manfred stellt es mehr fest als dass er fragt. Er hat sich eine Pfeife gestopft und zündet sie jetzt mit einem langen Streichholz an. Der Tabak verbreitet sein süßes Aroma. Plumcake von McBarren, registriere ich. Auch ich habe früher mal Pfeife geraucht.
»Jens, du sagst mir noch einmal, warum du dorthin willst. Ich erzähle dir von den völkischen Siedlern und dann überlegen wir weiter. Okay?«
Mir soll es recht sein. Während ich ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit von Miriam und Jeschu erzähle, bearbeitet er seine Pfeife. Endlich qualmt es zuverlässig und er muss nicht mehr ständig ziehen und Dampf machen.
»Um es gleich vorweg zu sagen. Heinrich Schlüter und eine Jüdin als Schwiegertochter – das geht absolut und gar nicht. Wenn dieses Kind wirklich von Schlüters Sohn Peter ist, dann hat weder der etwas zu lachen noch die Mutter seines Enkelkindes noch dass Baby selbst! Im Gegenteil. Das Schlimmste zu befürchten wäre vielleicht noch zu harmlos.«
Ich bin nun ganz Ohr und bitte Manfred mehr von Schlüter und seiner Familie zu erzählen.
»Bevor ich dir von Schlüter erzähle, müssen wir klären, ob dir ›die Siedler‹ ein Begriff sind.«
»Abgesehen vom Gesellschaftsspiel nur ansatzweise. Wir hatten vor etwa einem Vierteljahr eine Leserbriefreihe dazu. Da ging es um rechtsextreme Siedler, die sich auch in unserem Landkreis niedergelassen haben. Unser Kolumnist hatte geschrieben, dass er freundliche Nachbarn habe, auch wenn die als Siedler wohl ideologisch reichlich rechts stehen.«
»Und das gab dann deutlich Widerspruch? Hoffentlich! Genau so aber läuft es. Die völkischen Siedler treten häufig harmlos auf, sind nette Nachbarn, sauber, ordentlich und freundlich zu den Leuten im Dorf. Politisch allerdings verstehen sie keinen Spaß. Worum noch mal geht es bei dem Gesellschaftsspiel?«
Читать дальше